Hier wird amputiert. Blutig. Aber nur auf der Bühne, im Graben wird angestückelt. Wir sind in einem englischen Herrenhaus, vielleicht in Burlington Hall, wo in den Jahren um 1713 der junge Georg Friedrich Händel vom gleichnamigen Earl beherbergt wurde, das nun im Zweiten Weltkrieg als Feldlazarett dient. Die wandhohen Ölgemälde sind verhängt, die kostbar vergoldeten Rokokomöbel mit Laken geschützt. Draußen wird noch echt gekämpft, drinnen toben Scharmützel der Leidenschaft. Dazwischen wälzen sich Verwunderte und wird operiert. König Egeo freilich möchte Prinzessin Agilea heiraten, eigentlich ist er als politisches Arrangement mit Medea verlobt. Die soll nun sein kampferprobter Sohn Teseo bekommen. Gut für sie, die ihn liebt, schlecht für Teseo, der Agilea vorzieht. Bald wird der Frieden verkündet; die Schlacht der Emotionen im Salon tobt weiter.
„Teseo“ war Händels dritte Oper für das prunkliebende Londoner Publikum. Das von Lully geborgte Libretto ist fünfaktig, die Arien sind kürzer, spannungsvoll, aber weder ist ein Hit dabei wie im „Rinaldo“ von 1710, noch sind sie schon so charaktervoll durchpsychologisiert, wie in den späteren Opern. Doch gelingt hier eine funktionale, straffe, die Personen auch durch immerhin fünf Duettem sprechende Accompagnati und zum Teil aufeinanderfolgende Arien einer Figur plausible machende dramaturgische Folgerichtigkeit – an einem Ort, in einem kurzen Zeitraum. Neben den beiden Hauptpaaren spiegelt sich in den beiden Dienern Clizia und Arcane komisch wie tragisch die weitgehend von Eifersucht vorangetriebene Aktion des Hauptquartetts.
Das Regiepaar Moshe Leiser und Patrice Caurier, nicht eben als Bilderstürmer bekannt, hat sich folgerichtig im Theater an der Wien für den historistischen Einheitsraum entschieden: griechisches Personal, Christian Fenouillats prächtig naturalistische Barock/Rokokokulisse und Agostino Cavalvas üppig seidenknisternde Forties-Roben und Uniformen, die diese Seria optisch wie ein Spinn off zur royalen Netflix-Seifenoper „The Crown“ anmuten lassen, schaffen den Bogen zum heutigen Hörer.
Und wirklich, die Agilea von Mari Eriksmoen wirkt mit ihrem hellen, intensiven Sopran und ihrer aufopferungsvollen Liebe zu Teseo wie eine singende Verwandte der noch jugendlich sanften Elizabeth II., während die unerwidert den gleichen Mann begehrende eher einer Mad Margaret ähnelte – einer verrückten Variante der Royal Princess. Die wundervoll dunkelglutende Gaëlle Arquez im petrolträgerfreien und flammendroten Kleid zeichnet diese Medea, die bereits in Korinth zur mehrfachen Mörderin wurde und jetzt ähnlich tödliche Verstrickungen fürchtet, jenseits jeder fremdländische Hexe, wie es vielleicht schlechte Theatertradition ist.
Eine schöne, impulsive Frau, im Pelz und mit Wiskey-Flasche, wird von den Dämonen ihrer Eifersucht überwältigt, verkeilt sich am Boden spastisch zuckend mit ihrer Rivalin, hebt vor Wut in die Höhe ab, lässt die Möbel wandern, die Vorhänge in der Luft verharren. Monströse Hände hangeln sich an den Türen hoch, die Butler knabbern als Werwölfe am von ihr eingeschläferten Teseo. Die magischen Momente der Oper geraten allerdings zu eher albernen Bühnenaktionen, das hätte man raffinierter imaginieren können. Dafür lässt Arquez mit ihrer voluminösen, bestens geführten Stimme und dem Sandelholz-Timbre keine vokalzauberischen Wünsche offen. Und einem überraschenden Abgang hat sie zudem: Statt mit einem Drachenwagen abzuheben haut sie sich blitzumzuckt einen Handgranate in den Bauch. Auch wenn sich die anderen Paare samt dem Arnold Schoenberg Chor danach wieder hochrappeln – ein glückliches Ende sieht anders aus.
Auf höchstem Niveau agieren und singen auch der zerquält am Stock humpelnde, aber koloraturstarke Countertenor Christophe Dumaux (Egeo), als zweiter Counter der wärmere, sanfte Benno Schachtner (Arcane) und die schmiegsam mütterliche Robin Johannsen (Clizia). Nur die Titelfigur Teseo (freilich mit zum Glück nur wenigen Arien) in Gestalt von Lena Belkina singt blässlich, monochrom und nicht immer auf der richtigen Tonhöhe.
Prachtvoll tönt es aus dem Orchestergraben. Der nun brillenlose René Jacobs waltet freudig bei einem weiteren, vom ihm stilistisch wissend und spannungsfördern retuschierten Werk in seinem Händelelement. Mit der ihm bestens vertrauten Berliner Akademie für Alte Musik holt er jede Feinheit aus der mit vier Flöten und gern gerbrauchten Oboen so üppig wie variantenreich orchestrierten Partitur heraus. Da finden sich pastorale Idylle und in kleinsten Noten spuckende, fauchende Furienszenen, es wird herrlich gebarmt und gewütet. Die zum Teil verlorenen Rezitative und vom bald mit den Einnahmen der ersten zwei Vorstellungen flüchtenden Impresario erzwungenen Kürzungen hat Jacobs könnerisch rekonstruiert. So ist auch die schon bei der Premiere gestrichene, aber inhaltlich wichtige Medea-Vertraute Fedra (Soula Parassidis gibt ihr mit wenigen Zeilen aufhorchend Profil) wieder da.
Eine wichtige Wiener Händel-Premiere als gelungenes Spiel der Affekte. Weil sie diesen, gerne als ungenügend abgetanen „Teseo“ mit seinen sehr spezifischen Eigenheiten überzeugend als ein weit besseres Stück im Händel-Kanon vorführt, als man es bisher angenommen hatte.
Der Beitrag Granate statt Drachenwagen für Medea: Auch musikalisch grandios rekonstruiert René Jacobs in Wien das bedeutende Händel-Frühwerk „Teseo“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.