Die Deutsche Oper Berlin hatte schon mal mehr Ehrgeiz. Von sechs szenischen Premieren geht nun schon im dritten Jahr in Folge eine an die mediokre Hausentdeckung Ole Anders Tandberg („Wozeck“) und zwei weitere sind Übernahmen aus Stuttgart („La Sonnambula“) und Lausanne, wo die heute Abend in Berlin herauskommende „Les Contes d’Hofmann“-Produktion bereits vor 15 (!) Jahren Premiere hatte. Da war also auch schon mal mehr Lametta… Als einzigen Vokalstar bietet sie Alex Esposito für die vier Bösewichter auf (der darf später auch noch den Titelhelden von der traurigen Massenet-Gestalt in der „Don Quichote“-Novität verkörpern) – und immerhin steht der Ständige Gastdirigent Enrique Mazzola am Pult. Der Vierziger mit dem kahlen Schädel und der charaktervoll roten Brille hat sich vor allem im italienischen Belcanto-Repertoire, aber zunehmend auch in der französischen Oper einen guten Dirigiernamen gemacht. Er selbst ist Spanier, in Barcelona geboren, aber („die Familiengeschichte ist komplex“) von einem Italiener nach dem Tod seines Vaters adoptiert worden und ist in Mailand aufgewachsen, wo er auch im Kinderchor der Scala gesungen hat. Da zudem der Hintergrund ein musikalischer ist, war die Berufswahl ziemlich klar.
Und immer schon hat ihn der rhythmische Impuls interessiert: „Oper muss Temperament haben“. Mazzola hat zunächst Geige und Klavier studiert. Später schloss sich ein Dirigier- und Kompositionsstudium am Konservatorium Giuseppe Verdi in Mailand an. In Deutschland machte er zum ersten Mal 2001 in Stuttgart auf sich aufmerksam, wo er bei dem ungewöhnlichen und unerwartet komischen, von Martin Kusej (!) inszenierten Donizetti-Doppel „Le convenienze ed inconvenienze teatrali“ und „I pazzi per progetto“ am Pult stand. Seither wird er sowohl für Belcanto-Klassiker als auch für Raritäten eingeladen: „Das ist mein Schicksal, es macht aber auch Spaß, Orchester für unbekannte Werke zu motivieren, ihnen klar zu machen, dass auch der Belcanto eine bestimmte stilistische Grammatik hat.“
Sie konnte er sich inzwischen erarbeiten und verfeinern. Aber nicht nur das. Denn Enrique Mazzola, der seit einigen Jahren in Paris lebt und fließend französisch spricht, wollte sich nicht auf ein Fach begrenzen lassen. „Weil ich in Raritäten gut bin, wurde ich irgendwann auch vermehrt für französisches Repertoire angefragt, eine tolle Erweiterung.“ So kam es dann auch, nach dem erfolgreichen Auftakt mit „Dinorah“, dass er an der Deutschen Oper zum Hauptdirigent des ambitionierten Meyerbeer-Zyklus wurde. „Und so war es wohl ganz natürlich, dass man mir angeboten hat, hier ab der Saison 2018/2019 Erster ständiger Gastdirigent am Haus zu werden. Ich verstehe mich mit dem Orchester gut, eine Premiere und diverse Repertoireabende pro Saison sind für die nächste Zeit ausgemacht.“
Ein Reisender mit festen Ankerpunkten. So mag Enrique Mazzola seine Karriere. „Ich komme zu Vertrauten zurück, muss nicht immer frisch anfangen, erfahre aber gleichzeitig beim Gastieren neue, wohlmöglich unerwartete Impulse“, so sieht für ihn eine perfekte Work-Balance aus. Die ihn freilich inzwischen auch verstärkt auf das sinfonische Feld geführt hat:
Seit Herbst 2012/2013 und noch bis nächsten Sommer war und ist er Künstlerischer Leiter und Musikdirektor des Orchestre National d’Île de France. Das Orchester, das viel in dieser Region reist und in einem Pariser Vorort seinen Sitz samt Probenräumen hat, gehört inzwischen auch zu den festen Klangkörpern der neue Pariser Philharmonie, Mazzola ist stolz, diesen wichtigen Schritt begleitet zu haben. Ebenso ist die neue Halle La Seine Musicale im Süden von Paris auf einer Seine-Insel ein zentraler Konzertort. 12 Programme gestaltet er mit dem ONDIF pro Saison, auch Education-Arbeit ist ihm ein Anliegen.
Was sind für Enrique Mazzola gegenwärtig wichtige Häuser und Orchester? „Berlin natürlich, aber auch die Opern in Zürich und Chicago, das London Philharmonic Orchester und im Sommer mein Debüt bei den Salzburger Festspielen mit Offenbachs „Orphée en Enfers“ in der Regie von Barrie Kosky. Die Wiener Staatsoper kommt, und an die Met kehre ich zurück. Und ich werde mich künftig verstärkt um die Opern von Giuseppe Verdi kümmern.“ So ist er längst Kosmopolit, hat in Europa, Russland in Nord- wie Südamerika und in Asien dirigiert, stand vor herkömmlichen Klangkörpern, aber auch vor Alte-Musik-Ensembles, ist den Bregenzer Festspielen (wo er im Sommer für den „Rigoletto“ mit Philipp Stölzl auf dem See zurückkehrt), aber auch dem Glyndebourne Festival und Aix-en-Provence verbunden. Und wenn es um Raritäten geht, dann stand er zudem in Wexford, Granada, Pesaro und Buxton am Pult. Sein Debüt an der Deutschen Oper gab er übrigens mit einem Pseudo-Wagner, dem „Geisterschiff“ von Dietsch, dem einst der klamme Deutsche in Paris sein „Fliegende Holländer“-Libretto verkauft hatte.
Sogar für Neue Musik hat Enrique Mazzola ein Händchen. 1999 bis 2003 war er Künstlerischer Leiter des einst von Hans Werner Henze gegründeten Cantiere Internazionale d’Arte in Montepulciano, wo er zahlreiche Konzerte und neue Opernproduktionen mit dem RNCM Symphony Orchestra gestaltete. Als ausgewiesener Interpret for Zeitgenössisches dirigierte er Collas an der Mailänder Scala, Luca Lombardi am Teatro dell’Opera di Roma, Amaldo De Felice an der Bayerischen Staatsoper, Azio Corghi in Pesaro sowie zahlreiche Konzertprogramme beim Festival de Radio France, der Biennale in Venedig und mit seinem Orchestre National d’Île de France, dem Orquestra Nacional da Porto und anderen namhaften europäischen Orchestern.
Im Oktober 2018 wurde er für seine Verdienste um das französische Musikleben zum „Chevalier de l’ordre des Arts et des Lettres“ ernannt. Enrique Mazzola bestück regelmäßig seinen einen YouTube-Kanal und eine neue, spannende CD gibt es zudem: mit dem ONDIF hat er neben Stawinskys „Feuervogel“, das witzig swingende, total unbekannte Darius-Milhaud-Ballett „La Bien aimée“ eingespielt, das dieser aus Schubert- und Liszt-Stücken für Pianola arrangiert hat.
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