Die Klassikwelt ist ein seltsamer Ort. Die #MeToo-Debatte ging bisher an Deutschland ziemlich vorbei, obwohl hier doch, rein von der Masse her, auch einiges Unbotmäßiges abgegangen sein müsste. Einzige Ausnahme: der inzwischen rechtskräftig verurteilte Ex-Rektor der Münchner Musikhochschule, Siegfried Mauser, dem seine Freundin Nike Wagner eben noch einmal glaubte, moralisch beispringen zu müssen – ohne offenbar wahrhaben zu wollen, dass ein guter Künstler eben nicht unbedingt auch ein guter Mensch sein muss. Wie aber sieht es mit einem aus, dem zwar eine Affäre anhängt, die aber bisher nicht richterlich geklärt ist – und es scheint auch nicht so, als ob das passieren wird. Die Rede ist von Daniele Gatti, der diesen Sommer wegen „ungebührlichen Verhaltens“ in einem bisher einmaligen Vorgang als Chef fristlos vom Amsterdamer Concertgebouw Orchest rausgeschmissen wurde. Bisher schweigt da alles still. Blöd für dir deutschen Musikinstitutionen, die mit dem vielgefragten Italiener laufende Verträge haben. Denn hier ist man sicher etwas sensibler als in dessen Heimatland, wo er nicht nur sofort Ersatztermine für seine ausgefallenen holländischen Dirigaten angeboten bekam, sondern nach seiner lange geplanten Saisoneröffnung an der römischen Oper sofort zum neuen Chefdirigenten ernannt wurde.
Warum Gatti dafür plötzlich Zeit hat, darüber verlor die römische Bürgermeisterin Virgina Raggi von der Cinque-Stelle-Partei natürlich kein Wort. Der Zeitpunkt war von der regierende Jungfrau zudem besonders unsensibel gewählt: Im Abends vorher dirigierten „Rigoletto“ geht es hauptsächlich um einen vergewaltigenden Herzog. Die möglichen Gatti-Opfer, sie sind den Italienern offenbar egal, da wird weiterhin der übliche Machismo gepflegt, gerade weil sowohl das international längst abgemeldete, finanziell unter Kuratel stehende Opernhaus und der angeschlagene Maestro einander so sehr brauchen.
In München hat Daniele Gatti ebenfalls im Oktober still und leise zwei Konzerte dirigiert. Die Medien dort scherte das nicht, Verträge, aus den das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks rechtlich kaum hätte aussteigen können, sie wurden erfüllt. Als nächstes wären an Ostern Auftritte mit den Berliner Philharmonikern sowie dem Bundesjugendorchester (!) in Baden-Baden und Berlin angestanden. Die Schwalben pfiffen es freilich schon von den Dächern, was jetzt als diplomatisches Meisterstück der neuen Intendantin Andrea Zietzschmann verkündet wurde: Daniele Gatti tritt schon jetzt „aus gesundheitlichen Gründen“ von „Otello“ zurück, ersetzt wird er von einem weit größeren Pultstar: dem eben von seiner Lungenkrebserkrankung genesenen Zubin Mehta, der seinen gesundheitlich ausgedünnten Kalender jetzt wieder hoffnungsfroh füllen kann. Netterweise wird noch hinterhergeschoben, dass weiter Verpflichtungen Gattis „davon nicht berührt“ seien. Da warten wird dann doch mal ab!
Und auch in Rom musste Gatti gleich den zweiten „Rigoletto“ wegen Herzrhythmusproblemen absagen, will aber beim nächsten wieder am Pult stehen. Offenbar bekommt ihm das südliche Klima besser als das im Norden….
Während die einen im gern alles weißwaschenden Klassikbetrieb um einem zumindest umstrittenen Maestro eiertanzen, auch um keine Vertragsstrafen zahlen zu müssen, und Gesichtswahrung betreiben, werden anderswo sehr vernünftige Dirigentenentscheidungen gefällt. So beerbt in San Francisco 2020, nach 25 Jahren an der Spitze des Symphony Orchestra, Esa-Pekka Salonen Michael Tilson Thomas. Der kalifornienaffine Finne, der bis 2009 insgesamt 17 Jahre sehr erfolgreich mit einem modernistischen Programm das Los Angeles Philharmonic geleitet hat, wird das ähnlich angelegte Profil von MTT beim SFO weiterentwickeln. Da wird also kein Rückschritt gemacht, die beiden Elite-Orchester von der Westküste behalten ihr innovatives Image gegenüber den konservativeren Traditionsklangkörpern an der US-Westküste. Und Salonen, der als Komponist offenbar doch nicht so gefragt war, wie er es vielleicht gern gehabt hätte (auch auf seine oft angekündigte Oper warten wir immer noch) hat wieder einen festen Anlaufpunkt. Beim London Philharmonia Orchestra hört er nämlich gleichzeitig als fester Gastdirigent auf.
Selbst an der Oper Graz werden Weichen klug gestellt. Da wird die ukrainische Generalmusikdirektorin Oksana Lyniv nach dem Herbst 2020 – erwartbar – nicht mehr ihren Vertrag verlängern. Der dort bestens eingeführte Roland Kluttig folgt ihr aus Coburg nach. Zu gefragt ist die ehemalige Kirill-Petrenko-Assistentin inzwischen international und diesen Verpflichtungen will sie nachkommen. Schließlich könnte sie, zusammen mit der Litauerin Mirga Grazynite-Tyla, die erste sein, die als Dirigentin Starstatus bei den allerersten Orchestern erreichen wird. Hier also verändert sich die männerdominierter Klassikwelt nachhaltig. Und ob diese Damen auch mal #MeToo-Probleme haben werden?
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