Sie haben es nicht zum ersten Mal getan, waren beide keine Jungfrauen mehr, weder live noch auf Konserve. Simon Rattle hatte sämtliche Beethoven-Klavierkonzerte bereits mit Alfred Brendel und den Wiener Philharmonikern für die EMI eingespielt, bei Mitsuko Uchida und Kurt Sanderling waren die Philips-Mikrofone vor dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks gestanden. 2010 aber haben sich Rattle und Uchida, die seit 1984 gemeinsam musizieren, in der Berliner Philharmonie darangemacht, zwischen Sibelius-Sinfonien und Ligeti-Appetizern zyklisch die High Beethoven Five zu versuchen. Und es ist ein schönes Bündel geworden, das die Berliner Philharmoniker jetzt auf ihrem eigenen Label dem geschiedene Chef noch hinterherschicken. Beide vermieden es eben, diese Handvoll Konzerte als eisernen Wiener Klassikbestand in eine kanonisch rhetorische Form zu gießen, sie bemühten sich, frei, aber nicht einsam auch spontan zu sein, gemeinsam und dialogisch um Form, Sprache und Emotion zu ringen, solchem wenigstens nachzuspüren. Und man registriert in jedem Ton das absolute Vertrauen, das beide Partner haben, aber das auch das Orchester für sie aufbringt. Trotzdem schenkt man sich nichts. Das hat Spannkraft, zumindest domestizierte Angriffslust, ist so gern Florettfechterei wie Austausch. Dabei ist fast die in Wien aufgewachsene japanische Diplomatentochter Uchida mit einer exzellente Balance aus Temperament und Feingefühl näher an Beethoven als der stetig aufgeraute Rattle. Sie scheint seine Tempi zu dosieren, er folgt ihr gern. Besonders schön gelingt das nach den brillant-virtuosen ersten beiden Konzerten in den Werken Nummer 3 und 4. Das ist dann so intellektuell wie gefühlvoll, das Soloklavier lebt und überrascht, aber auch das Orchester setzt souverän seine Akzente. Ein Spiel unter Gleichen, wo gerne Eleganz und polierte Oberfläche hinter dem Ringen um einen neuen Ansatz zurücktreten muss.
Doch mit Beethoven nicht genug: Die Berliner habe auf der Hausmarke auch noch – wie stets auf CD und Bluray – Mahlers Sechste Sinfonie mit Simon Rattle veröffentlich, gleich zweimal: war das Mammutwerk doch erste Wahl für den Einstieg des 32-Jährigen bei dem Orchester im November 1987 wie auch sein offizieller Chefdirigentenabschied am 20. Juni 2018. Der Anfang – ein Ertasten, der Interpret muss sich diesen Kosmos selbst noch souverän erarbeiten. Aber man hat Interesse aneinander gefasst. Am Schluss der Rattle-Ära stand dann ein sachlicher, ehrlicher Jubel, bewundernd aber enden wollend. So ähnlich wie auch das vorangegangene Mahler-Finale. Immer apokalyptischer zerklüftet, in zwei Hammerschlägen kulminierend, dabei kräftig energetisch vorangetrieben. Der lange letzte Satz – wie die nicht ohne Widerspruch und heftigen Diskussionen im Orchester abgelaufenen Rattle-Jahre.
So ungestüm stürmt auch bereits der erste Satz im Marschtempo voran, entfaltet sich, breitet sich aus. Ein Fanal, ein Statement, unbekleidet, nicht eingerahmt. Nur dieses große, mitunter grimmige Stück bedeutender europäischer Musikgeschichte. Das schließlich doch in fanfarenartigen Unisono-Momenten endet, wieder strauchelt, schwankt, schließlich leise, zweifelnd, seinen Schlussakkord findet, grüblerisch, schnell weggetragen. Rattle quetscht es aus den Noten, dass hier aus einer nicht mehr glaubhaften Spätromantik die Musik des 20. Jahrhunderts entsteht. Und das es über hundert Jahre später immer noch aufregend ist, dem zuzuhören. Souverän spielt das gesamte Orchester, das ganz dicht bei seinem Chef ist.
Und als dritte CD des wieder ungewohnt medienaktiven Sir Simon gibt es noch eine reizvolle Doublette von seinem neuen Klangkörper, dem London Symphony Orchestra zu hören, das ja auch überaus fleißig auf dem eigenen Label noch Silberscheiben auswirft. Schon sein erstes (und bestes) Berliner Silvesterkonzert 2002 hatte der schnell ins raue Spree-Herz geschlossene Stab-Schnuckel der Philharmoniker nämlich Leonard Bernsteins Musical „Wonderful Town“ aus dem Jahr 1953 gewidmet. Und so manche klatschresistente Wilmersdorfer Matrone mutierte damals in Minutenschnelle zur red hot mama, als ihr der Rhythmus pfeilschnell ins Knie geschossen wurde: jene vibrierenden Klänge, harten Riffs, purzelnden Synkopen und jähen Saxophonstöße, die New York verheißen. Der Big Apple bollerte: Und Leonard Bernsteins Song-and-Dance-Folge legte so richtig los. Für die Überraschung des Abends aber sorgte 2002 Lady Candace. Rattles Ehefrau Nummer zwei brachte als Zugabe den Saal ganz undeutsch zum Conga-Tanzen. Polonaise am Potsdamer Platz.
Ähnliches kann man jetzt auch aus dem Barbican Center hören, wo das Revival im Bernstein-Jahr genauso übermütig in die Füße und Applaushände ging. Man registriert zudem die noch größere Vertrautheit der LSO-Spieler mit dieser Musik und der „shaggy dog story“ (Rattle) über zwei Schwestern aus Ohio, die New York ihr Glück als Schauspielerin und Autorin versuchen. Nach Rückschlägen und (Liebes-)Abenteuern, einem Gefängnisaufenthalt wegen Ruhestörung inklusive, kommt alles tänzerischem swingend ins Lot. Hier stehen Ragtime und Foxtrott oder opernhaft-lyrische Momente neben rezitativischen Passagen. Ein Stilmix, der mit viel Verve gemeistert wird und an dem die Besetzung mit Danielle de Niese, der zupackenden Alysha Umphress und dem schön alternden Bariton-Beau Nathan Gunn, auch besonders der Chor unter Rattles altem Kampfgefährten Simon Halsey beteiligt ist.
Ludwig van Beethoven: Klavierkonzerte. Mitsuko Uchida, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 6. Berliner Philharmoniker, Simon Rattle (Edition Berliner Philharmoniker)
Leonard Bernstein: Wonderful Town. Danielle de Niese, Alysha Umphress, Nathan Gunn, Duncan Rock u.a., London Symphony Chor und Orchester, Simon Rattle (LSO live)
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