Jules Massenets „Werther“ ist ein Schmuckstück des Repertoires: parfümiert, aber wahrhaftig, nach dem sich lyrische Tenöre wie Mezzosoprane die Finger lecken. Und das Tatjana Gürbaca klug, neu, intensiv in Zürich inszenierte. Klaus Grünbergs Bühne ist grell ausgeleuchtet und fokussiert in einer engen, perspektivisch verkürzten Zimmerschachtel. Dieses besteht nur aus Türen, Klappen, Laden und einer Faltwand, hinter der eine Heimorgel wartet. Ein Furniermonster, selbst die Decke ist getäfelt. Es ist fast leer, ein paar Bücher gibt es und rechts eine dominante Uhr, deren Pendel unnachgiebig die Zeit verrinnen lässt. Eine Spießerfamilie feiert. Papa (Cheyne Davidson), viele Kinder, eines im Rollstuhl, alle von Silke Willrett in dezentem Seventies-Look hell gekleidet, von enervierend guter Laune. Man kann nicht wegschauen, und auch Cornelius Meister lässt uns schon im Vorspiel die Akkorde entgegenknallen, das Klanggeschehen dramatisch sich verdüstern. Von außen schleicht sich ein Mann herein, Werther, Startenor Juan Diego Flórez. Tatjana Gürbaca arbeitet das ganz einfach, aber schlagkräftig, subtil, doch unübersehbar heraus: Werther und Charlotte, diese beiden können gar nicht zusammenkommen, obwohl Werthers unbedingte Leidenschaft und Fixiertheit, die auch den bariton-mürrischen, männlichen Albert (Audun Inversen) als Charlottes legitimen Ehemann einfach negiert, seine Angebetete doch aus ihrer Reserve lockt: Da ist was! Diese brav funktionierende Ersatzfrau ihres verwitweten Vaters, die sich um die Kinder kümmert bis hin zur frühreif ihren Liebesträumen hinterherblinzelnden Schwester Sophie (freches Früchtchen: Mélissa Petit), die hat doch einen Unterleib und ein loderndes Herz. Den letzten Schritt vom Weg traut sich die gutbürgerliche Charlotte der hell timbrierten, langsam vokale Fahrt aufnehmenden Anna Stéphany nicht. Der letzte Akt, der sich zu Tode singende, von der fernen Geliebten gefundene Protagonist samt dem honigsüßen Herzschmerz-Sterbeduett, er ist nur noch surreales Tableau. „Werther“, der utopische Fiebertraum, eines wahnsinnig Liebenden, das bricht sich apart mit Massenet köstlichem Melodiegeträufel, dem Cornelius Meister die Kalorien entzieht, dessen Konturen er schärft. Diese Aufführung bündelt sich in der Titelfigur. Flórez gestaltet den gleichzeitig heutig und entrückt, als Prototyp und Individuum. Er traut sich ein scharfes Forte, die Stimme ist nach wie vor von melancholisch feiner Süße. Nie stellt er Töne aus, da ist ein Sänger vollkommen in seiner Rolle aufgegangen. Große Klasse in der tollen Kiste!
Jules Massenet: Werther. Juan Diego Flórez, Anna Stéphany, Mélissa Petit, Audun Iversen, Cheyne Davidson, Martin Zysset u.a., Chor der Oper Zürich, Philharmonia Zürich, Cornelius Meister (Accentus Music)
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