Man kann ja von den Wiener Philharmonikern halten, was man mag, aber die Organisiertheit und Arbeitsdisziplin dieser Banda ist schon einmalig. Da wird neben dem Operndienst (der im Januar zudem den einzigen, ohne jede Orchesterprobe unter Axel Kober durchlaufenden „Ring“-Zyklus im Haus am Ring vorsieht) auch das dreimal zu spielende Neujahrskonzert weggesteckt (CD selbstredend schon auf dem Markt!) sowie zwei Wiener Abo-Programme samt zwischengeschobener Drei-Städte-Tournee nach Lugano, Frankfurt und Budapest mit Michael Tilson Thomas und Igor Levit (deren Noten dann auch Anfang März beim jährlichen Carnegie-Hall-Gastspiel auf den New Yorker Pulten liegt), und am 24. Januar ist im Goldenen Saal Philharmonikerball. Erlebt man eben die Truppe in der Frankfurter Alten Oper mit dem spannenderen, erst noch nach Wien zu bringenden zweiten Programm (dort war bisher nur Mahlers Neunte im Musikverein zu hören), dann ist das ein – bis auf ein paar eigenwillige Hörner am Beginn der 2. Brahms-Sinfonie – makelloses Konzert. Und die einzige Gelegenheit, diese Saison den in Deutschland nur selten aufschlagenden Michael Tilson Thomas zu erleben. Während dessen designierter Nachfolger Esa-Pekka Salonen seine ersten Konzerte seit der Ernennung beim San Francisco Symphony absolviert und in den Frankfurter Gängen bereits die Plakate für dessen Gastspiel mit dem London Philharmonia Orchestra für Anfang März hängen. MTT hingegen ist nach wie vor ein gerngesehener Gast beim London Symphony Orchestra; neben den Wienern und ganz selten den Berliner Philharmonikern sowie dem Orchestre de Paris, fast der einzige Klangkörper wo der Amerikaner noch außer bei seinen beiden eigenen, dem in San Francisco und dem von ihm gegründeten New World Symphony in Miami, als Gast anzutreffen ist.
Auf dem Programm der Wiener: bewährt hauseigene Tradition mit Beethovens 3. Klavierkonzert und der Zweiten Brahms sowie Americana mit dem isolierten zweiten Satz aus Charles Ives’ A Symphony: New England Holidays, auch gern als die amerikanischen „Vier Jahreszeiten“ tituliert. Dieser Decoration Day atmet Weite und Atmosphäre, mit den versprengten Glocken über den Gräbern der Bürgerkriegsveteranen, und er bekommt dann doch grelle Akzente, wenn in dem nervösen ständigen Taktwechsel nach dem Kirchenlied die Marching Band mit Melodiefetzen des Second Regiment Connecticut National Guard March vorübertrampelt. Aber: Immer klingt es besonders schön. Die Wiener und Ives, das hat was.
Igor Levit, der in dieser Combo auch sein New Yorker Orchesterdebüt geben wird und mit MTT bisher einmal in Tanglewood musiziert hat, spielt vergleichsweise wenige Konzerte, das 3. der Beethoven-Five ist momentan einer seiner Standards. Den er energetisch zupackend, oft stakkatohaft kurz angeht, schlank und ohne viel Verweile-doch, damit ganz eins mit MTTs diesseitig klarem Zugriff, der freilich schön fließt, Strukturen darlegt ohne sie allzu sehr auszumodellieren. In der Kadenz aber, völlig legitim, wir Levit dann zu Levit, dem Eigenwilligen. Im zweiten Satz füg sich diese gemeinsame Sichtweise gut in einer feinen Balance aus deutlicher, aber nicht zu gefühliger Romantik: ein Largo in vernünftigem, nicht tränenseligen E-Dur, stellenweise leise und zart in sich hineinhörend, dazu partnerschaftlich von einem feinfühligen Orchester mitaustariert. Und auch das Finale atmet eine sportive, angriffslustige, nie grelle Größe.
Die Energie dieses Rondos kanalisiert sich in einem pointiert abgesetzten Schluss. Erweist sich Igor Levit hier als distinguierter, aber wacher Teamplayer, so setzt er einen eigenwilligen Zugaben-Punkt: das so insistent still mysteriöse, wie grell ausbrechende „La chanson de la folle au bord de la mer“ von Charles Valentin Alkan (der auch eine Kadenz für den Beethoven geschrieben hat), das in diesem wohlfeilen Konzert ein auffälliges Pausen-Fragezeichen markiert.
Dann noch eine 2. Brahms-Sinfonie ohne besondere Vorkommnisse oder interpretatorisches Ego. Weich dahingleitend auf dem behaglichen Luxussound der Wiener Philharmoniker, souverän gegliedert, tempimäßig eher auf der langsamen Seite. Mit pastoral anmutenden Holzbläserbeiträgen, dem süffig weichen Streicherteppich und der buttrigen Hörnerkrönung. Brahms als frisch-fröhlicher, in sich ruhender, durchaus selbstgewisser Europäer, ganz ohne amerikanische Garnierung. MTT kann eben auch das.
Der Beitrag Tradition und Amerikana: die Wiener Philharmoniker unter Michael Tilson Thomas mit Igor Levit auf Frankfurter Tourstation erschien zuerst auf Brugs Klassiker.