Seltsames Konzert: Da kommen 11.000, im Durchschnitt mittelalte Menschen zum Spitzenpreis von 145 Euro zusammen, um sich in einer atmosphärelosen Halle mit grottiger Akustik ein 90-Jährigen anzuschauen, der mit stoischer Gestik und schmallippigem Lächeln bei den steifen Verbeugungen einem Sinfonieorchester samt großem Chor für zweieinhalb Stunden die immergleichen, auf und ab wippenden rhythmischen Impulse gibt. Und zu hören ist eine topfig klingende, seltsam abgehackt servierte Melange aus schnell durchdeklinierten Ingredienzen: süffiger, bisweilen zart schmelzender Streichersound, mit Cello oder sehr gern Bratschensoli, Oboe und Englischhorn sind auch möglich, eine losknatternde Bläsersektion, in der die Flügelhörner beliebt sind, die immer wieder straffe Marschtempi vorgibt, die von der imposanten Perkussionsabteilung virtuos gestört oder martialisch unterstützt wird. Und trotzdem, dieses letzte deutsche Konzert des greisen Ennio Morricone in der Berliner Mercedes-Benz Arena, fies verstärkt und auf zwei Leinwände übertragen, es hat es Denkwürdiges: Schließlich ist der Filmkomponist und nicht der Dirigent weltberühmt, ja legendär. Wahnwitzige 521 Soundtracks hat er seit 1961 geschrieben, Schlager auch, damals in den Swinging Sixties, als er für jedes Genre des boomenden italienischen Films, die Western, die Giallo-Movies, die Mafia-Krimis seinen versatilen Tonfall beisteuerte. Schließlich ist er ein Alleskönner, er hat Kirchenmusik und Trompete studiert, war in Darmstadt dabei, spielte in der Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza, Jazz und Musique concrète. Bis die Spaghetti-Western in berühmt machten. Bis Hollywood, ja sogar der deutsche Film („Deutschland im Herbst“) riefen. Viele dieser Titel sind längst vergessen, aber die Noten oder zumindest ein Motiv blieben. Und Morricone.
Und das war und ist die wahre Größe dieses Mannes, dessen Webseite ihn selbst als „größten lebenden Komponisten“ anpreist. Das ist als Label müßig zu diskutieren, zumindest ist er vermutlich der Bekannteste. Deshalb kommen auch so viel Leute und geizen nicht mit Standing Ovations. Und zumindest ist er gegenüber John Williams, ebenfalls für den Film tätig, der ihm den Titel als einziger streitig machen könnte, der viel mutigere, avantgardistischere. Ennio Morricones oft melancholieumflorte Töne können durchaus dissonant sein und verstören, im Film, zum bewegten Bild ist da viel mehr erlaubt als absolut und abstrakt im Konzertsaal. Nur sie fügen sich, so aus dem dramaturgischen Zusammenhang gerissen, oftmals einfach aufhörend und ohne Konzertschluss zu schlampigen Suiten kompiliert, nicht unbedingt zu einem befriedigenden Konzerterlebnis. Man hakt ab, Abwechslung, großer Spannungsbogen geht aber anders.
In neun Sektionen aufgeteilt ist der Abend, sechs vor und drei nach der Pause. Applaus brandet schon auf, als das in der Streichersektion etwas ausgedünnte, sehr filmmusikerfahrene Tschechische Nationale Symphonieorchester und die 80-köpfige Sangesmannschaft, gebildet aus dem rumänischen Oradea State Philharmonic Chor und dem ungarischen Kodály Choir Debrecen (EX-Ostblock ist immer noch gut und billig) ihre Plätze einnehmen. Und steigert sich als Morricone aus einer extra für ihn aufgestellten Vorhangkabine den nunmehr kurzen Weg durch Orchester zu Stuhl und Pult nimmt. Weniger zum Idol geboren war eigentlich keiner als der Mann mit der schwarzen Brille.
Die Chöre haben zumindest keine Textprobleme. Ihr Vokalbeitrag beschränkt sich auf Vokalisen, die Männer dürfen, ausgerechnet in Morricones jüngster, hier zu hörenden Komposition, dem endlich oscarbekrönten Beitrag zum Tarantino-Schneewestern „The Hateful Eight“, die mit fiesen, dämonisch brodelnden Ostinati den zweiten Teil eröffnet, auch mal so was wie „Wau Wau“ von sich geben. Immerhin haben da gleich drei Fagotte ihren seit Strawinskys Sacre du Printemps musikgeschichtlich vermutlich bedeutendsten Auftritt.
Wenig bedeutend gerät leider auch der Beitrag der beiden offenbar als appetitliche Sättigungsbeilage aufgebotenen Frauen. Susanna Rigacci und die portugiesische Fadosängerin Dulce Pontes haben ebenfalls kaum Worte zu interpretieren, die erst langsam sich einpendelnde Verstärkung lässt ihre Stimmen meist schrill, grell und hart klingen.
Zu hören gibt es erstaunlich wenige Morricone-Hits, viel Unbekanntes, auch Sperriges ist dabei. Der Maestro wollte offenbart keine finale Evergreen-Enzyklopädie liefern, sondern nur das, was ihm Spaß macht und ihm am Herzen liegt: „Die Unberührbaren“ eröffnet unter dem Motto „Historische Epen“ den Abend, lyrisch und auch mit der oboenumspielt südamerikanischen Ökö-Anklage „Mission“ geht es versöhnlich offiziell zu Ende. Bertoluccis „1900“ liefert dem Klavier Gelegenheit für Tanzbares, die Pause ist mit „Die Modernität des Mythos in Sergio Leones Kino“ erreicht. Ein bisschen Volkshochschule muss sein. Diese Sektion wird natürlich von den schrillen, eisig todeskalten Harmonikariffs – Morricones monumental mythischer Moment – eröffnet, und die iPhones filmen jetzt fleißig. Doch ist das Instrument in seiner Grellheit nur von der Konserve zugespielt, so wie auch der charaktervolle Kojotenruf in „Zwei glorreiche Halunken“, dem Finale der „Dollar“-Trilogie. Nicht alles, in diesem für das Studio entstandenen, aber meist auf herkömmliches Instrumentarium zurückgreifenden Œuvre ist eben konzertkompatibel.
Nach der Pause Tarantinos klirrender Höllenritt, dann eine wenig mitreißende Melodien-Sammlung unter dem Titel „Soziales Kino“ mit „Die Schlacht von Algier“, Sacco und Vanzetti“ und dem unbekannten „Der Weg der Arbeiterklasse ins Paradies“ sowie „La Luz Prodigiosa“. Dann „The Mission“, endend mit dem religiös überhauchten Titel „On Earth as it is in Heaven“. Und erst im Zugabenteil gibt es mit „Nuovo Cinema Paradiso“ eine Erinnerung an die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Giuseppe Tornatore.
Die letzte Zugabe ist, sie war schon vorher erklungen, eines seiner Lieblingswerke, „Abolição“ aus „Queimada – Die Insel des Schrecken“ (1969) mit Marlon Brando über einen Sklavenaufstand in der Karibik. Da hat die E-Orgel ihren großen Auftritt. Erst klingt es nach Bach, dann kommen Congas dazu, die Rhythmik verschieb sich und schon sind wir weit weg aus Europa. So minimalistisch und magisch ist Morricone. Und der Chor singt eben nur das: „Abolição“, dutzende Mal ins Hymnische sich steigernd, auf der Tonleiter emporkletternd, wenn dann noch die Bläser dazwischengrätschen. Ravels Bolero-Prinzip. Die Sänger fordern so die Abschaffung des Menschenhandels und wir hören Morricones Genius in Reinkultur, mit einem Musikmoment, der bleibt.
Ein seltsamer Abend. Dabeigewesen. Mindestens drei Tourorte in Italien folgen noch mit Verona, Lucca und Rom (sechs ! Konzerte in den Caracalla Termen). Mindestens. Angeblich sitzt Ennio Morricone auch schon wieder an einem neuen Soundtrack…
Der Beitrag Ennio Morricones letzter Deutschland-Auftritt: Ein stoischer Mythos in topfiger Akustik erschien zuerst auf Brugs Klassiker.