Es ist zum irre werden. Sie dreht sich wie eine Schraube im Kopf. Immer weiter. Dieses vermaledeite Melodie, so simpel und so penetrant: „Blanche-Marie et Marie-Blanche“. Der süße Seim, aus dem Gassenhauer sind. Verfasst hat ihn André Charles Prosper Messager (1853-1929), ein äußert produktiver französischer Komponist, den man bei uns höchstens aus dem nicht mehr vorhandenen Kurkonzert kennt. Ein Mann der leichten Musen mit Anspruch, der sich vor allem als Dirigent auch allerhöchste Weihen holte. Schließlich war dieser Kirchenmusiker und Organist, der sich abends in die Vaudevilles am Montmartre stahl, mit Gabriel Fauré und seinem Lehrer Camille Saint-Saëns gut bekannt. Von Claude Debussy wurde er gar so hoch geschätzt, dass er ihm, Messager war 1898 Direktor der Pariser Opéra-Comique geworden, 1902 die Uraufführung von „Pelléas et Mélisande“ anvertraute. Vorher hatte er schon Gustave Charpentiers „Louise“ und Massenets „Grisélidis“ aus der Taufe gehoben. Sogar eine englische Karriere hat Messager von 1901 bis 1906 als Artistic Director am Royal Opera House Covent Garden in London gemacht, 1907–1913 wirkte er als Kodirektor der Pariser Opéra. Dank Frederic Ashtons (unlängst wieder aufgenommener) Choreografie wird bis heute sein heiteres Ballett „Les deux pigeons“ am Royal Ballet gezeigt, und in Frankreichs Provinztheatern begegnet man gern seinem Hauptwerk, der Opéra comique „Véronique“. John Eliot Gardiner hat vor einigen Jahren Messagers frivol-melancholisches Venedig-Werk „Fortunio“ eingespielt, mit „Madame Chrysanthème“ vertonte dieser erstmals den späteren „Madama Butterfly“-Stoff. Und er blieb so lange en vogue, dass er im Alter noch für das Twenties-Glamour-Paar Yvonne Printemps und Sasha Guitry Comedies musicales verfertige, ja für den Revuestar sogar den Chanson-Schlager „J’ai deux amants“ komponierte. Eines seiner in Frankreich lange beliebten Werke hat jetzt die unermüdliche Stiftung Palazetto Bru Zane aufpolieren lassen, eben die Geschichte von nicht Schneeweißchen und Rosenrot, sondern von Marie-Blanche und Blanche-Marie, genannt „Les P’tits Michu“.
Während sich Alexandre Dratwicki und sein Team weiter durch die vergessene seriöse Musikliteratur des 19. Jahrhunderts pflügen, so wie es ihre Stiftungsaufgabe ist, haben sie sich längst auch dem unterhaltenden Musiktheater nicht nur der Belle Époque zugewandt. Während man in diesem Jahr natürlich auch ausgiebig den 200-jährigen Jacques Offenbach beim schon traditionellen Pariser Juni-Festival Bru Zane feiert (mit „Madame Favart“ und Maître Péronilla“ und auch regelmäßig, etwa in Sachen Charles Lecocq, mit der Opéra-comique zusammenarbeitet, verfolgt man seit geraumer Zeit auch eine zweite Schiene mit leichten, variablen Produktionen, die dann durch die vielen schönen, aber ensemblelosen Theater der Provinz touren können und dort unaufwendig für zwei bis drei Tage gstieren.
Den Anfang machte Hervés „Les chevaliers de la Table ronde“, die es in drei Jahren Spielzeit bis nach Venedig gebracht haben. Zudem begann eben im Pariser Théâtre Marigny mit knackigen Einaktern von Hervé und Offenbach eine auf jeweils ein Wochenende im Monat konzentrierte Operettensaison namens Bouffes Bru Zane. In Bordeaux hat man mit Marc Minkowski bereits Offenbachs „La Périchole“ eingespielt, ebenso eine Best-of-CD aus Hervés „Mam’zelle Nitouche“, die letztes Jahr von Toulon aus neuerlich in die Operetten-Umlaufbahn geschossen wurde. Außerdem sind drei Büchlein über Hervé, Offenbach und Messager sowie eine Offenbach-CD der aufsteigenden Sopranistin Jodie Devos mit raren Arien bei alpha erschienen.
Ganz druckpressenfrisch ist auch die Nummer 19 der schön kartonierten, buchähnlichen de-luxe-CD-Edition à la Bru Zane bei Edititones singulares: In Rosa und Glitzerhellblau, mit Lesebändchen und zwei Quietscheentchen samt Seifenblasen auf dem Titel präsentiert sich als erste Operettenproduktion in dieser erlauchten Reihe eben Messagers „Les p’tit Michu“, jene 1897 uraufgeführte, ebenfalls seifenblasenleichte Verwechslungsgeschichte zwei Mädchen im Bade, eben den beiden kleinen Töchtern des Markthändlerehepaars Michou. Die eine war nämlich nur geliehen und in Pflege, man weiß aber nicht mehr welche. Was zu Konfusionen führt, als ihr richtiger Vater sie einem Ehemann zuweisen möchte.
Am Ende und viele heitere, ungemein in die Ohren, in den Bauch und in die Füße gehende Melodien, Walzer, Duette und Ensembles später löst sich natürlich alles in Wohlgefallen auf. Wobei das CD-Design durchaus den Ton der gleichzeitig hier mitgeschnittenen Bühnenproduktion widerspiegelt, die nach der Premiere in Nantes, über Paris eben in Reims angekommen ist. Dort passt sie in der vergnügt-kreischigen Regie Rémy Barchés perfekt in das Opernhaus, dessen historistische Außenhülle dank des Ersten-Weltkriegsbeschusses durch die Deutschen heute zauberhaft unerwartete Art-Deco-Interieurs beherbergt; denen des Pariser Théâtre des Champs-Élysees ähnlich, wenngleich weniger kostbar.
Und wieder, wie bei den „Chevaliers“ hat die krakelig-bewegliche Truppe Les Brigands ein komisches Juwel zum bunten Funkeln gebracht. Optisch sieht das in seinem knalligen Farben zwischen Rosa und Blau, Gelb und Weiß ein wenig aus wie Jacques Demys Musicalfilm-Klassiker „Les Parapluies de Cherbourg“, doch das eigentlich nach der französischen Revolution angesiedelte Geschehen ist zeitlos und hier konsequent modern. Und dabei so rasant wie ein singender, klingender Louis-de-Funés-Film. Alles ist sowieso folle, drôle und gaie, man nimmt sich und andere nicht so ernst, spielt und singt sehr körperlich und direkt, ja übertrieben in dieser sehr französischen Comic-Welt, aber eben immer espritvoll und elegant. Violette Polchi und Anne-Aurore Cochet sind als unschuldsvoll-frivoles Schwesternpaar eine Augen- und Ohrenweide, krachig-derb-rustikal knallen als Eltern Michou Marie Lenormand und Damien Bigourdan ihre Pointen auf die rosa Bühnenkiste mit ihren Beobachter-Bullaugen (von Salma Bordes), die wie eine Ikea-Spielecke wirkt.
Stéphane Bordanoro lässt per Video die hübschen Strichelillustrationen von Marianne Tricot, Herzen, eine Badewanne, Luftballons, Pariser Straßen, Feuerwerk, lebendig werden. Fesch sind Jean-Christophe Lanièce (Gaston) und Artavaz Sargsyan (Aristide) als Liebhaber. Mathieu Dubroca gibt mit viel komisch-pompöser Aufgeblasenheit den Vater-General, Romain Dayez ist das dämlich detektivische Riesenbärchen-Faktotum Bagnolet. Und Caroline Meng schmeißt sich mit Verve in die schrille Gestalt der Pensionsvorsteherin Mademoiselle Herpin. Pierre Dumoussaud lässt es hingegen, hier in der Champagne, auch orchestral bitzeln und blubbern, dirigiert straff, dabei melodienverliebt – obwohl er hier nur 12 Musiker im Graben sitzen hat (in Nantes waren es 25, für die CD 48 Instrumentalisten) sowie über einen Chor verfügte. Doch die Verve dieser fast atemlosen, dabei höchst charmanten Aufführung lässt die größeren Kollektive kaum vermissen.
Der Beitrag “Les P’tits Michu” in Reims: Die Stiftung Palazetto Bru Zane beweist mit Messagers komischem Juwel neuerlich ihre Operetten-Begabung erschien zuerst auf Brugs Klassiker.