Das passt doch sehr gut zu dieser zwar romantisch nüchternen, aber immerhin Weltkulturerbe-Stadt: Im seit dem Krieg weitgehend seiner Fachwerk-Heimeligkeit beraubten Hildesheim bemüht sich Generalmusikdirektor Florian Ziemen seit anderthalb Jahren Amtszeit deutlich, schon durch seine Werkauswahl wieder überregional aufhorchen zu lassen ohne seine treuen Abonnenten zu verschrecken. Das ist ihm im außen Schiller-Motto-verzierten, innen ebenfalls schnörkelbefreiten, sich schick weiß-rot-blau präsentierenden Stadttheater, der Hauptheimstadt der Landesbühne Theater für Niedersachsen, ganz erfreulich gelungen. Letzte Spielzeit gab es die deutsche Erstaufführung von Donizettis kleinem Belcanto-Leckerli „Adelia“. Mozarts „Figaro“ spielte man in einer historischen deutschen Singspielfassung von August Vulpius und Adoph Knigge, die ihren Urheber schon 1790 in Regensburg begeisterte. Und während ein Berliner Team um den Schauspielstar Max Hopp in seiner ersten Regie sowie den Dirigent/Arrangeur Adam Benzwi mit den Proben begonnen hat, für das Offenbach-Jahr eben nicht einen der handelsüblichen Repertoire-Kracher aufzuhübschen, sondern immerhin den Baden-Baden uraufgeführten Dreiakter „Die Prinzessin von Trapezunt“, kann man eine weitere weihnachtliche, aber auch zur Klirrkälte perfekt passende Rarität bestaunen: Peter Tschaikowskys einzig komisch-rustikale, ukrainisch-deftige, aber auch zart liebeslasierte Oper, das Märchenspiel um „Die Pantöffelchen der Zarin“. Russisch „Ttscherewitschki“, basieren sie auf der Gogol-Erzählung „Die Nacht vor Weihnachten“ und bieten ein launisches Liebespaar auf, gleich vier Nebenbuhler in Säcken, einen Nixenchor auf zugefrorenem See, eine lüsternen Hexe samt geilem Teufel, Schneestürme, Tänzen und viel slawischer Folklore – und seit 30 Jahren wurden sie auf keiner deutschen Bühne mehr gesehen.
So weitet sich selbst doch hierzulande ganz erfreulich ein Komponistenbild. Es müssen eben nicht nur immer und ewig die beiden Meisterwerke „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ sein. Inzwischen gibt es ab und an ja auch das ebenfalls ukrainische Geschichtsepos „Mazeppa“ zu sehen, die russische Grand Opéra „Die Jungfrau von Orléans“ (im März mal wieder im Theater an der Wien) oder die ebenfalls folkloristisch angetünchte, bei Nishni Novgorod spielende „Zauberin“ (im März in Lyon). Und das jugendstilfeine Anna-Netrebko-Vehikel „Jolanta“ hat eben zum deutsch-russischen Kulturjahr in Berlin Valery Gergiev mit seinen Mariinsky-Kräften konzertant aufgeführt. So bleiben neben dem faktisch nie gespielten, am Hofe Iwans des Schrecklichen angesiedelten Frühwerk „Der Opritschik“, in dem der verworfene Erstling „Der Woywode“ aufgegangen ist, und der unvollendeten „Undine“ nur die in zwei Fassungen vorliegenden, dem Komponisten sehr lieben „Pantöffelchen“. Die wurden 1876 als „Der Schmied Wakula“ uraufgeführt und 1887 revidiert sowie instrumental überarbeitet unter dem neuen Titel mit Tschaikowsky selbst am Dirigentenpult im Moskauer Bolschoi Theater erstmals gegeben.
Zuletzt trippelten die „Pantöffelchen“, weil die damalige Direktorin Elaine Padmore das Stück liebte, vor zehn Jahren über die Bühne des Royal Opera House Covent Garden – als eine Art russische Disney-Revue, aufgeplüscht von Francesca Zambello. Solches ist in Hildesheim schon finanziell gar nicht möglich. Also verlegte sich die gewitzte Regisseurin Anna Katharina Bernreitner auf ein minimalistisches, aber variables Erscheinungsbild. Und überraschende Einfälle. Auf der schwarzverhängten Bühne stehen kleine Dorfhäuschen verteilt, andere klappen als Fassade nach oben. Stühle und Weihnachtsbäumchen folgen aus der Versenkung, als Tisch dient ein Mehrzweckgebäude, das ebenfalls als Kirche, Wirtshaus und Truhe herhalten muss. Hinten erhebt sich ein mit Schneematten bedeckter Hügel samt Rutsche, der dem flockenüberstäubten Panorama Tiefe verleiht. Der Mond ist erst ein weißer Luftballon, den der Teufel auf der Schaukel platzen lässt, dann eine Discokugel. Am glücklichen Ende scheint die Sonne, und ist es hinten hell.
Als Kostüme dienen Wärmeunterwäsche und wulstige Thermo-Anzüge, man trägt Moon Boots und Fellstiefel. Die Soloherren haben Pelzkappen, die sie als Fuchs, Dachs oder Büffel ausweisen, an der Teufelsstirn prangt ein Gamsgeweih. Die Damen geben nach der Pause vollhaarverhüllte Nixen. Und als die von der offenbar mit einem Schuhtick geborenen Oxana von ihrem Liebhaber Wakula geforderten Schläppchen beim Fest der Zarewna abgestaubt werden, wähnt man sich zwischen als Palmen verkleideten, fahrenden Heizpilzen auf einem Skihaserlball in schönster Après-Pistenlaune: auch eine Folkloreveranstaltung der besonderen Art. Klar, dass die titelgebenden Sneakers am Ende goldglänzen und LED-zucken. Vergnüglich also, wie Hannah Rosa Oellinger und Manfred Rainer aus einem beschränkten Ausstattungsetat optisch Funken schlagen. Selbst beim Bier wird gespart: Es reproduziert sich matrjoschkahaft gleich vierfach aus derselben Flasche.
Wie so oft in der russischen Oper, wird lose reihend als Stationendrama erzählt. Da geht es in der ersten Hälfte vorwiegend um das Liebesleben der attraktiv in Rosa verpackten Hexe und Wakula-Mama Solocha (mezzosüß bis in den kirschfarbenen Anzug samt Totenkopfzöpfchen: Neele Kramer), die sich nicht nur dem rolligen Teufel (attraktiv züngelnd: Peter Kubik), sondern auch gleich noch dem Dorfschulzen, dem Schulmeister und ihrem künftigen Schwiegertochter-Vater erwehren muss; das aber – selbst ist die Magierin – auch mit kaputt ganz zauberhaftem Besenschirm in Form eine originellen Quintetts hinbekommt. Im zweiten Teil wird dann mit dem meist passiven, aber lyrisch schön und ein wenig melancholisch tenorsingenden Wakula (Beau Gibon) und dem Teufel als jetzt dienendem Beelzebub zu den Schuhen der Zarin auf verschlungenen Wegen nach St. Petersburg gereist. Und auch wenn am Ende die befriedigte Oxsana nur noch ihren Lover, gar nicht mehr die güldenen Treter will, Katja Bördner macht mit klar gesetzten Sopranspitzen deutlich, dass sie eher von kapriziöser Natur ist.
Anders als sonst verteilt Peter Tschaikowsky in dieser typischen Spieloper als erotischer Sommernachtstraum im Winter seine Sympathien weniger deutlich unter den Figuren, stattdessen streut er ein Füllhorn feiner Melodien und aufstampfender Tänze aus. Er kann es ebenfalls höfisch elegant, auch wenn die royale Polonaise als Urmodell der späteren aus dem „Eugen Onegin“ vorklingt. Wie sorgfältig Florian Ziemen sein Orchester einstudiert hat, hört man auch wenn Chordirektor Achim Falkenhausen am Pult steht. Ruckelt es in der allzu blockhaft abgesetzten Ouvertüre noch, so nimmt dieser gustiöse Musikdampfer schnell schön schnaufend Fahrt auf – und offenbart eine weitere, überraschende Tschaikowsky-Facette.
Hildesheim ist also eine Opernreise wert – und man möchte jetzt nicht nochmals 30 Jahre auf die nächsten „Pantöffelchen“ warten müssen. Opernhäuser der Republik, habt ein wenig mehr Repertoiremut, gerade bei den russischen Stücken!
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