Diese Oper ist eigentlich keinem Theater zu wünschen: Sie ist lang, aufwändig, wirr, dramaturgisch zerfasert. Sie wartet mit einer der am schwierigsten zu besetzenden Verdi-Tenorrollen auf und auch die Sopranpartie ist nicht ganz ohne. Beim Tenor musste man sich in Frankfurt drei Wochen vor der Premiere um Ersatz bemühen, die Sopranistin ist ein noch weitgehend unbeschriebenes Vokalblatt, der Dirigent macht bisher nur aus Begleiter Anna Netrebkos auf sich aufmerksam. Nur dem Regisseur, dem traute man dieses Monsterstück zu, gilt er doch längst mit seinem bewährten Team als Tatortreiniger bei den komplizierteren, vor allem großformatigen Opernkriminalfällen. Und wirklich: Tobias Kratzer hat auch diesmal an der Oper Frankfurt ein überzeugendes, ziemlich gut aufgehendes Konzept für die problematische „La forza del Destino“ zu bieten. Seine These: in kaum einer anderen Oper des 19. Jahrhunderts geht es so explizit um Rassismus und Ausgrenzung. Engstirnige Xenophobie zerstört hier nicht nur eine Familie, sondern auch eine Gesellschaft, und das wird dann einfach als „Schicksal“ deklariert. Dabei denkt der Regisseur diesmal, das passt bestens zu oft grellen, kolportagehaft verschnittenen, fast experimentellen Musik des mittleren Verdi, in durchaus plakativen Bildern. Hier geht es weniger um subtile Personenregie, die beiden Hauptprotagonisten sind zudem eher stoisch und ohne viel darstellerische Begabung damit beschäftigt, erfolgreich die richtigen Noten zu treffen.
Ausstatter Rainer Sellmaier und Videomacher Manuel Braun arbeiten sich an einer Zeitleiste ab, die von der Entstehungsperiode der Oper in ihrer selten gespielten St. Petersburger Urfassung von 1862 bis zur unmittelbaren Gegenwart reicht und sie verlegten das abstruse, auf einem spanischen Stationendrama beruhende, zwischen Spanien und einem fiktiven Krieg in Italien pendelnde Geschehen konsequent nach Amerika, wo der Rassismus bis heute eine Gesellschaft tief prägt und vergiftet.
Deswegen beginnt es auf einer Plantage während der Sklaverei im amerikanischen Süden, wahrscheinlich wollte Kratzer immer schon einmal die grünen Samtportieren von Mama O’Hara zeigen, aus denen Tochter Scarlett in „Vom Winde verweht“ später ein Ausgehkleid verfertige wird. Und so sehen wir in einem nüchtern weißen Zimmer, dessen Wände hervorragend als Filmprojektionsfläche taugen, wie sich der fatale Schuss aus der Pistole des Mestizen Alvaro löst, der den Marchese Calatrava niederstreckt. Was dessen Sohn Carlo dazu bringen wird, seine Schwester und deren von der übrigen Familie verhassten Liebhaber bis auf den Tod zu verfolgen. In üppiger Period-Kostümierung und -Kulissen läuft hinten auf der Leinwand mit anderen, tweilweise auch farbigen Darstellen ab, was vorn von den Sängern nachexerziert wird, sind sie doch nur Puppen im Schicksalsgetriebe.
Das zweite, fast surreale Bild in der Dorfkneipe wo sich verkleidete Protagonisten, Bauern, die Kriegstreiberin Preziosilla und Pilger treffen und im Gesang aus Liebe, Hass und Gottvertrauen vereinen, es spielt in einem Konföderierten-Saloon der mit lauter Knautschmasken und einem Marlene-Dietrich-Klon auf der Showbühne zur Playmobil-Puppenstube vergrößert wurde. Beklemmend ist die Klosterszene in einer kahlen Erweckerkirche der Fünfziger, wo sich die frommen Brüder in biederen Strickwesten plötzlich in vermummte Ku-Klux-Klan-Mitglieder vor einem brennenden Kreuz verwandeln und Leonora auf ihren Glauben einschwören.
Die Szenen der Schlacht, im Hospital und Militärlager haben jetzt weiße Betttuchwände, Palmen und ein Hochstand fahren hinein und hinaus, die filmisch anschwirrenden Helikopter verweisen auf „Apocalypse Now“, „Rambo“ und die Schrecken des Vietnam-Krieges. Als Truppenunterhalterin wird wiederum Preziosilla als Bunny abgeseilt, welches eine obszöne Maskenshow mit Marilyn und Nixon hinlegt, aber auch nicht davor zurückschreckt, einen gefangenen Asiaten abzuknallen. Die Strafpredigt des Kapuziners hingegen wird untermalt von einer stumm untertitelten Fernsehrede Martin Luther Kings, die durch die Präzision ihrer Gedanken rührt.
In den letzten beiden Bildern führt uns das „Schicksal“ in die Suppenküche im Kloster und dessen Eremitage zurück: Vor einer Doppelstatue der Obamas streiten sich Bedürftige und Verteilfreiwillige von heute rücksichtslos um die Zuteilung der Lebensmittel. Alvaro und Leonora, die beide hier ohne voneinander zu wissen, Zuflucht gesucht haben, werden am Ende vom uneinsichtigen Carlo und zwei brutalen Cops hingerichtet, die niemand anderes sind als der Pförtner und Padre Guardiano. Dazu laufen ein letztes Mal Videos von Rassenunruhen- und Demonstrationen in den USA.
Das ist so virtuos wie eindimensional. Trifft aber in den Kern dieses gerne ausfransenden Stückes und hält es hier inhaltlich wie optisch zusammen. Natürlich ist das auch provokativ, es gab am Ende auch vehemente Buhs, aber selbst Verdi ficht hier mit grellen Mitteln. Was der Dirigent Jader Bignamini mit einer genau ausbalancierten Partiturinterpretation unterstreicht. Da gibt es vortrefflich lyrische Stellen, mit fein zu hörenden Nebenstimmen, zart ausgehaltenen Momenten der Soloklarinette, und da gewittert es rhythmisch präzise los, ohne überlaut zu werden. Ein finsterer Tonfall ist immer da, gerade in dieser noch nihilistischeren, auf echtes Gottvertrauen verzichtenden Frühfassung. Angriffslustig auch die gut aufgelegten Chöre von Tilman Michael.
Die Besetzung richtet sich in dieser Vorgaben bestens und bequem ein. Hovhannes Ayvazyan ist ein noch ungeschliffener Tenorrohdiamant, dessen Pianohöhen noch etwas flach wirken, der aber die gewaltigen Anforderungen des Alvaro gut wegsteckt. Ebenso seine Sopranpartnerin Michelle Bradley, deren Leonora besonders in den oberen Lagen aufblüht, die aber auch schöne, pianofeine Legato-Bögen schwingt. Starbariton Christopher Maltman bewegt sich auf eher ungewohntem Verdi-Terrain mit veristischem Stimmkern ohne typisches Italo-Timbre, aber mit packt sich den fiesen Carlo mit knackiger Wut. Tanja Ariane Baumgartner wertet die episodische Preziosilla durch ihre immerwährend wandlungsfähige Präsenz auf, ihr fleischig beweglicher Mezzo beißt kraftvoll zu und selbst im Bunny-Einteiler macht sie bella figura. Eher ungemütlich gibt sich diesmal mit strömenden Bass Franz-Josef Selig als Marchese/Padre, und auch Craig Colclough ist ein ideal charakterbaritonal salbadernder und schimpfender Frau Melitone.
Tobias Kratzer, der Mann für Große und Grobe, für die Grand-Opéra-Schinken und Belcanto-Dinosaurier. In Frankfurt hat er schon Meyerbeers „Vasco da Gama“ zerlegt und in den Weltraum geschossen. Im Sommer wird er Bayreuth mit einem neuen „Tannhäuser“ sicherlich aufmischen. Gleich darauf gibt es zum Spielzeitanfang in Lyon Rossinis „Guillaume Tell“, und auch die Pariser Oper hat bei ihm für 2020 ein Filetstück des französischen Repertoires als Neuzurichtung bestellt. Dich zwischendurch kann er auch kleiner. Ende März hat ihn die Deutsche Oper – es wird sein Berlin-Debüt – einzig für den Zemlinsky-Einakter „Der Zwerg“ engagiert, der aber noch um Schönbergs „Begleitmusik für eine Lichtspielszene“ ergänzen wird.
Zemlinskys anderen, sonst meist im Doppel gegeben Einakter „Eine florentinische Tragödie“, hat Tobias Kratzer freilich bereits vor Weihnachten im opernkulturpolitisch gebeutelten Halle inszeniert und damit dem von seinem Geschäftsführer unterwanderten Spartenleiter Florian Lutz zumindest kurzfristig ästhetisch den Rücken gestärkt. Die Dreiecksgeschichte um einen vom Ehemann überraschten, perfide fast als ein gemeinsames Rollenspiel zu Tode gebrachten Liebhaber der Gattin hat er ungewöhnlicher Weise mit „Bastien und Bastienne“, einem, ebenfalls als flotter Dreier auskommenden Jugendwerk des 12-jährigen Mozarts kombiniert.
Entstanden ist ein sich geschmeidig gut in das bescheidenere Opernambiente Halles fügender, starker Konzeptabend, der die scheinbar harmlose Mozart-Pastorale interpretatorisch krass modernisiert und aufwertet und sich mit dem originell gedeuteten Zemlinsky zu einer Art Anti-Education sentimentale rundet. Die Mozart-Oper von 1768 wird dabei zunächst zum juvenilen Internetchatstück umfunktioniert, das zeigt, wer da so alles auf der Suche nach frischen Fleisch im Netz sein Unwesen treibt. Der Zauber Colas, der Bastienne in Liebesdingen um den zaudernden Bastien beraten soll, das ist jetzt ein schmieriger Partnerschaftsberater, der natürlich ganz anders aussieht und eine ganz andere Identität hat als auf seiner Webseite. Er residiert auf einem Podium in der Mitte zwischen den beiden ihre Gefühle und Identitäten erst noch finden müssenden Jugendlichen.
Jeder ist hier seine Insel, inclusive Computer und Camp samt Leinwand, über die die Chats, Emojis und Beratungsmails laufen. Colas, aber der geilt sich ziemlich handgreiflich und überdeutlich an den emotionalen Irrungen und Wirrungen des von ihm ausspionierten Teenager-Pärchens auf. Mozarts als Masturbationsvorlage, plötzlich bekommt das harmlose Musikgeplänkel eine überraschend sinnige zweite Ebene. Robert Sellier und Vanessa Waldhart sowie Michael Zehe als mieser Doktor Sommer machen das gut, und für das Sex-Handwerk mit den Auberginen-Bildchen sind dann Profis zuständig.
Um Käuflichkeit, Machtspiele und ausgestellte Gefühle geht es dann auch in Alexander von Zemlinskys 1917 uraufgeführtem Einakter „Eine florentinische Tragödie“ nach Oscar Wilde, den die Staatskapelle Halle unter Christopher Sprenger schön spätromantisch aufschäumen lässt. Wir sind in der Bettenabteilung eines Kaufhauses, alles hat hier sein Preisschild, auch der Schrank, in dem Bianca (mit großem Sopran: Anke Berndt) ihren Geliebten Guido (vitaler Tenor: Matthias Koziorowski) verschwinden lässt, als ihr Mann Simone (Gerd Vogel) von einer Geschäftsreise heimkommt.
Wieder ein Paar am Scheideweg, dem ein Dritter als Katalysator dient. Findet sich das erste Duo in Harmonie, so muss beim zweiten erst einer sterben, auf sadistische Weise von beiden in ihrer Spiele miteinbezogen, auf dass sie noch einmal einen Kick füreinander bekommen. Und am Ende hat der Mann wieder seinen Warenwert im Dinggefüge der frustrierten Frau, den auch ehr bekommt sein Preisschild. Auch im Kleinen inszeniert Kratzer also überraschend und bestechend präzise.
Der Beitrag Verdi und der Rassismus: Tobias Kratzer verlegt seine Frankfurter „La forza del destino“ in die USA erschien zuerst auf Brugs Klassiker.