K/4/4. Sehr guter Elbphilharmonieplatz, müssen Sie sich merken! Vielleicht einer der besten im Haus. Halbhoch, zentral, genau dem Orchester gegenüber. Das und der Klaviersolist mischen sich perfekt. Natürlich liegt es auch am (gesangslosen) Programm, frühes 20. Jahrhundert, aber mit ziemlich großer Besetzung – zumindest in den beiden Eckwerken. Es beginnt mit Naturlüften, Frühlingsrauschen. Flora streckt und reckt sich, holzbläserklar, fünfminutenkurz. Erstmals steht Mirga Grazinyte-Tyla, eben verkündete Deutsche-Grammophon-Exklusivkünstlerin, am Pult des NDR Elbphilharmonie Orchesters, und ihr schön komponiertes Konzert startet beziehungsreich mit „D’un matin du printemps“ einem Mini-Stück der ersten, viel zu früh gestorbenen Rom-Preisträgerin Lili Boulanger. Frauenpower! Muss das extra betont werden? In der immer noch rückständigen Klassikwelt schon. Obwohl die supersympathische, sanft wirkende, aber total determinierte Litauerin keinerlei Bohei macht. Sie schwebt herein, lächelt, fängt an. Hier noch mit einer gewissen Lyrik in den Armbewegungen, die doch deutlich macht: Sie hat alles im Griff. Sehr souverän.
Perfekte Balance auch mit dem so kraft- wie geschmackvollen, immer noch zu wenig bekannten Denis Kozhukhin im 5. Prokofiew-Klavierkonzert. Fünfsätzig, zweimal wird zwischengeklatscht. Das smarte Werk ist selten zu hören, tönt unauffällig abgeklärt, ist dabei das schwerste des gehaltvollen Tasten-Quintetts. Kozhukhin spielt mit schlankem, doch prägnantem Anschlag, die Tempi bleiben gelassen, es geht ohne jeden Testosteronausstoß zu.
Und schließlich der komplette „Feuervogel“, Strawinskys tänzerisches Wunderwerk der Instrumentierung. Mirga Grazinyte-Tyla wuppt diese sich glanz- und kraftvoll wölbenden 50 Minuten mit Energie und Grazie. Sie macht deutlich, wie solistisch zart das besetzt ist, lässt aber auch das Orchester mit Schmackes in die Tuttivollen gehen. Im Uniosono-Finale kommt dann freilich die Akustik schon wieder an ihre Grenzen. Einerlei. Das ist märchenhaft russisch, aber auch von moderne Strukturen geprägt. Sie weiß zu verweilen und anzuziehen, alle folgen wie zwanglos und doch superpräzis. Das hat Dynamik, Dramatik, bleibt affirmativ und abstrakt zugleich, besitzt eine stets spannende Erzählhaltung. Selten hat man das Orchester mit einer so reichen Farbpalette erlebt. Eine Freude zuzuhören wie zuzuschauen. Einmal mehr wird deutlich. Mirga Grazinyte-Tyla hat es! Da wächst eine ganz Große heran. Endlich. Hinterher freilich wird niemand empfangen. Die Dirigentin stillt. Auch eine neue Backstage-Erfahrung.
Und nun ist sie also auch die erste Dirigentin beim Karajan-Label. Der hätte sie gemocht. Die 32-jährige, eben Mama gewordene Musikdirektorin des City of Birmingham Symphony Orchestra, ist also die erste Pultfrau der Deutschen Grammophon seit ihrer Gründung vor 120 Jahren. Ihre Ernennung durch das CBSO sorgte im Februar 2016 durchaus für Schlagzeilen, nachdem sie – nicht einmal ein Jahr nach ihrem Debüt bei dem Orchester – einstimmig auf einen Posten berufen worden war, den vor ihr Simon Rattle, Sakari Oramo und Andris Nelsons innehatten. Auch dort sprüht ihr Charisma, überzeugt ihre originelle Programmgestaltung.
Mirga Grazinyte-Tylas Einstand bei DG wird im Mai ein Album mit Orchesterwerken des polnischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg aufgenommen im letzten November. Weinberg wäre im kommenden Dezember 100 Jahre alt geworden. Die Kremerata Baltica ist mit der frühen Sinfonie Nr. 2 zu hören, CBSO, Kremerata Baltica und Gidon Kremer vereinen sich in der Sinfonie Nr. 21 „Kaddish“, die 1991 vollendet wurde und den Opfern des Warschauer Ghettos gewidmet ist. Die Dirigentin wird später Musik der jungen Litauerin Raminta Šerkšnyte mit dem Litauischen Nationalen Symphonieorchester, dem Städtischen Chor Vilnius und der Kremerata Baltica einspielen. Im Mittelpunkt eines weiteren DG-Projekts steht eine Aufnahme von Werken britischer Komponisten anlässlich des Jubiläums des Orchesters. Und spätestens dann wird es auch Zeit, dass man bei der deutschen Grammophon Mirga Grazinyte-Tyla auch am Standardrepertoire mit den old and young Boys des Labels sich messen lässt…
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