Hurra, es ist wieder Gummihandschuh-Zeit! Nein, nix Perverses. Doch statt Baumwolle hat man selbst beim Archivio Storico Ricordi zwecks Betatschen der kostbaren Auslegeware inzwischen auf Plastewegwerfartikel umgestellt. Doch wie herrlich ist das: Da sitzt man in den neuen, lichten Räumen im Mailänder Palazzo di Brera, wo man im stylishen Wendeltreppenhaus von einem exotischen „Turandot“-Plakat begrüßt wird, hinten geht der Blick auf den sehr geheim gehaltenen Botanischen Garten hinaus, und man blättert sich geschützt und munter durch die kostbarsten Originale der Operngeschichte. Zum Beispiel durch das von eigener Puccini-Hand gewohnt verschmierte und malträtierte Manuskript von dessen Zweitling „Edgar“, uraufgeführt 1989 an der Scala. Auch das von Ferdinando Fontana verfasste Libretto liegt im Archiv. Aber erst mit der vierten Fassung 1905 vom Komponisten als endgültig – und trotzdem unrettbar – angesehen. Natürlich ist in diesem historischen Mini-Schinken, der am Ende drei-aktig nur noch 90 arg melodramatische Minuten dauerte, vieles Unausgegorenes. Doch der Puccini-Touch ist immer wieder spürbar. Auch in den vielfach überschriebenen, zugeklebten, weggekratzen Noten von Komponisten- wie Kopistenhand. Da mischen sich auf den mürben, vorbildlich restaurierten Blättern, die sogar die schweißigen Originalfingerabdrücke Puccinis zeigen, Farben, Handschriften, Stadien und Temperamenten. Man sieht, wie hier um jede Note gerungen wurde. Eine faszinierende Werkstattreise in die Vergangenheit.
Die man längst online machen kann. Nicht an den Originalpartituren, aber – ganz neu – in mehr als 30.000 historischen Briefe der Casa Ricordi, dem wichtigsten italienischen Opernverlagshaus und ein Nationalschatz allererster Güte. Sie sind auf archivioricordi.com frei zugänglich und recherchierbar. So macht der heutige Besitzer, die Bertelsmann AG, die sich in den letzten Jahren fantastisch um diese auch sehr sinnlich erfahrbaren Juwelen der Musiktheaterhistorie von Rossini über Donizetti, Verdi, Puccini bis heute gekümmert hat, nach und nach alle wichtigen Bestände des Archivs zur italienischen Operngeschichte digital verfügbar. Vor zwei Jahre wurden bereits die herrlichen historischen Bühnen- und Kostümentwürfe online gestellt. So kann sich jeder die tiefe Einblicke in den italienischen Kulturbetrieb des 19. und 20. Jahrhunderts verschaffen und nur bewundern, wie Giulio und Tito Riccordi hier klug, raffiniert, manchmal auch brutal ein alles beherrschendes Verlagsimperium aufbauten.
Auf der Webseite findet sich also inzwischen die komplette ikonographische Sammlung des Ricordi-Archivs mit mehr als 400 Porträts namhafter Sängerinnen und Sänger, Komponisten und Librettisten. Auch rund 600 Bühnenbildentwürfe sowie mehrere Tausend Kostüm- und Requisitenzeichnungen zu zahlreichen italienischen Opern, darunter die Werke von Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini, sind enthalten. Nach und nach sollen alle wichtigen Bestände des Archivs digital verfügbar gemacht werden, auch historische Fotografien und Poster, Libretti und Auszüge aus Partituren sowie administrative Dokumente.
Zwischen 1808 und 1962 wurden die jetzt frisch zugänglichen Korrespondenzen an die Casa Ricordi geschickt oder von dort an Kulturschaffende und Geschäftspartner in aller Welt ausgesendet. Sie erzählen sowohl die Geschichte eines der führenden Musikverlage jener Zeit und machen gleichzeitig wichtige Facetten der italienischen Operngeschichte sichtbar. Die Briefkollektion befindet sich im Tresor der Nationalbibliothek Braidense in Mailand und war bisher nur auf Anfrage einsehbar; lediglich ausgesuchte Briefwechsel fanden Eingang in wissenschaftliche Publikationen. Im Zuge eines aufwändigen, wissenschaftlich begleiteten Digitalisierungsprozesses wurden die zumeist handgeschriebenen Geschäftsbriefe nun eingelesen und in die Ricordi Collezione Digitale überführt. Zentrale Briefwechsel wurden zudem transkribiert, annotiert, ins Englische übersetzt sowie mit Links versehen und damit erstmals Musikwissenschaftlern und Opernfans gleichermaßen zur Erforschung bereitgestellt.
Die Briefe zeugen von professionellen, kommerziellen und persönlichen Beziehungen der Verlegerfamilie Ricordi zu Librettisten, Komponisten, Sängerinnen und Sängern, zu Unternehmern, Politikern und Journalisten. Sie lassen erkennen, wie die Casa Ricordi einst mit Kulturgrößen verhandelte und kommunizierte, wie das Unternehmen plante und seine Entscheidungen traf. Zu den aufschlussreichsten Briefwechseln der jetzt integrierten Kollektion „Lettere di Casa Ricordi“ gehört die private Korrespondenz zwischen Giulio Ricordi und seinem Sohn Tito aus den Jahren 1888 bis 1918. Die beiden Verleger lenkten die Geschicke der Casa Ricordi auf sehr unterschiedliche Weise: Während Giulio Ricordi Geschäftsbeziehungen eher behutsam aufbaute und seine Standpunkte in langen Briefen erklärte, formulierte Sohn und Nachfolger Tito eher technisch und prägnant. Seine Briefe zeugen auch vom Bestreben des Unternehmens, schwierige Kriegsjahre zu überstehen und den technologischen Fortschritt mit dem Übergang vom Telegrafen zum Telefon zu meistern.
Das Ricordi-Archiv will sich so in den kommenden Jahren stärker der wissenschaftlichen und archivischen Community, aber auch für musikalisch interessierte Laien öffnen. Darüber hinaus ist über das Portal nun auch der Briefwechsel zwischen der Casa Ricordi und Vicenzo Bellini zugänglich. Diese 50 Briefe aus externen Sammlungen wurden in Kooperation mit der Universität Catania sowie dem dortigen Archivio Bellini transkribiert. Im Archivio Storico Ricordi befinden sich rund 7.800 Originalpartituren von mehr als 600 Opern, an die 10.000 Libretti, die ikonographische Sammlung mit farbenprächtigen Bühnen- und Kostümentwürfen sowie die komplette historische Geschäftskorrespondenz des Hauses. Die Casa Ricordi, 1808 von Giovanni Ricordi in Mailand gegründet, prägte die Kulturgeschichte Italiens und Europas maßgeblich. Dort erschienen die Werke der „großen fünf“ Komponisten der italienischen Oper – Gioachino Rossini, Gaetano Donizetti, Vincenzo Bellini, Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini. Von Beginn an wurden alle Unternehmensdokumente akribisch archiviert. Aus der ehemaligen Geschäfts-Dokumentation des Musikverlages Casa Ricordi wurde so ein historisches Archiv von wissenschaftlich unschätzbarem Wert.
Bertelsmann erwarb das traditionsreiche italienische Musikverlagshaus 1994, trennte sich in den Folgejahren aber wieder von dem Musikunternehmen und den Ricordi-Musikrechten. Das zugehörige Archivio Storico Ricordi und die Markenrechte verblieben indessen im Konzern. Und werden inzwischen hingebungsvoll gepflegt. Ja, mehr noch, man konzipiert Ausstellungen, verleiht großzügig und man unterstützt auch Aktivitäten, die sich unmittelbar aus den Ricordi-Inhalten speisen. So wie nun zum dritten Mal die Berliner Operngruppe, die am 4. Februar im Konzerthaus eben Puccinis „Edgar“ als Berliner Erstaufführung präsentiert. Denn natürlich liegen Teile der Originalpartitur (ein Akt befindet sich im Wohn- und Sterbehaus in Torre del Lago) und weitere historische Dokumente im Archivio Storico Ricordi in Mailand.
Die etwas krude, im mittelalterlichen Flandern angesiedelte Oper um Liebe, Treue und Verrat wird semiszenisch in Berlin in der letzten Fassung von 1905 gezeigt. Die Operngruppe startete mit ihrer Entdeckungsfahrt vor neun Jahren. Einen Schwerpunkt bilden hierbei die weniger gespielten Opern Giuseppe Verdis: Nach „Oberto“, „Atilla“ und „I Masnadieri“ vertieft die Berliner Operngruppe diese Auseinandersetzung seit 2017 mit Bertelsmann-Hilfe in den Aufführungen von „Stiffelio“ und „Giovanna d‘Arco“. Felix Krieger, künstlerischer Leiter und Dirigent der Operngruppe, reiste im November eigens nach Mailand, um die Originaldokumente zu „Edgar“ im Archivio Storico zu studieren. Er äußerte sich begeistert: „Es ist sehr beeindruckend zu sehen, wie Puccini an der ursprünglich vieraktigen Fassung von ‚Edgar‘ immer wieder vielfältige Veränderungen vorgenommen hat, um schließlich zur wesentlich kompakteren letzten Fassung von 1905 zu gelangen.“
Einen Teil der gestrichenen Musik verwendete Puccini später in anderen Werken wie der Messa di gloria (1880), dem Preludio in A für Orchester (1882), einem Adagio für Streichquartett (1882), dem Capriccio sinfonico (1883) und dem Lied Storiella d’amore (1883). Das Duett „Amaro sol per te m’era il morire!“ überlebte im dritten Akt von „Tosca“. Puccini selbst zeigte später kein größeres Interesse mehr an diesem Frühwerk. Auf einen Klavierauszug, den er Sybil Seligman schickte, schrieb er die Worte „E Dio ti Gu A Rdi da quest’opera“ („Und möge Gott dich vor dieser Oper beschützen“). Da Puccini die Überarbeitung direkt im Autograph vorgenommen hatte, war die Urfassung lange Zeit nicht mehr zu rekonstruieren. Erst 2007 wurden Teile der Originalpartitur im Nachlass einer Puccini-Erbin wiedergefunden. Die ursprüngliche vieraktige Fassung wurde inzwischen sorgfältig rekonstruiert und 2008 in Turin uraufgeführt.
Mit dem Tenor Peter Auty in der Titelpartie des Edgar, der Sopranistin Elena Rossi als Fidelia, der Mezzosopranistin Silvia Beltrami als böse Tigrana und dem Bariton Aris Argiris als Frank sind in Berlin die Hauptrollen prominent besetzt. Außerdem ist mit dem Nachwuchstalent David Ostrek als Gualtiero ein früheres Mitglied des von Liz Mohn geförderten Opernstudios der Staatsoper Berlin mit dabei. Die szenische Einrichtung übernimmt der Regisseur Thilo Reinhardt, die Choreinstudierung liegt in den Händen von Steffen Schubert und Dirigent der Aufführung ist Felix Krieger.
Und so sind wir auch ganz beruhigt: Nicht nur hat sich die Bertelsmann Stiftung in ihrem „Neue Stimmen“-Wettbewerb spät, aber noch rechtzeitig vom übel ins Gerede gekommenen langjährigen Jury-Vorsitzenden und Workshop-Anbieter Gustav Kuhn distanziert. Wir sind auch sicher, dass der kürzlich auf einer Gütersloher Autobahnraststätte erfolgte Raub der kompletten Kostüme von Robert Wilsons Madrider „Turandot“, die auf dem Weg zum Kooperationspartner in Vilnius war, nichts mit einer eventuellen Auffrischung von Liz Mohns Garderobe zu tun hat…
Der Beitrag Archivio Ricordi: Bertelsmann stellt 30.000 Briefe online und unterstützt die Berliner Erstaufführung von Puccins „Edgar“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.