Ok, das Jacques-Offenbach-Jahr hat, mit nur wenig Champagnerkorkenknall, angehoben. In Köln, wo man jetzt mit „Yes, we Cancan“ auch lange über den Karneval hinaus den Bruder Jakob feiert, gab es mit der semikonzertanten Rekonstruktion des schrägen Menschenfresser-Einakters „Oyayaye“ einen hübschen Auftakt. Dort treibt man es auch weiterhin bunt. Aber jenseits der bekannten Stücke ist leider wenig Mut bei den Theater festzustellen, sich auch um die Vielzahl der halbbekannten Stücke zu kümmern. Das schmerzt auch den Verlag Boosey & Hawks, dessen deutsches Inprint Bote & Bock (Offenbachs alte Notenheimat) die Edition Keck betreut. Allein knapp 140 Musiktheaterwerke zählt sein ausuferndes Werkverzeichnis von ungefähr 600 Stücken; von vielen weiß man höchstens den Titel. 20.000 Seiten ungedruckter Offenbach-Noten gibt es laut Offenbach-Papst Jean-Christophe Keck. Ungefähr vierzig abendfüllende Werke hat Jacques Offenbach in seinem langen Entertainmentleben verfertigt, bekannt ist davon höchstens ein Viertel. Und leider wird das wohl auch – hoffen wir noch auf die Herbstsaison – auch 2018 nicht anders werden. Da zieht von Hannover nach Wien die schräge Politfarce „König Karotte“, deren opulent-lustige deutschsprachige Wiederaufführung kürzlich in Hannover an die Wiener Volksoper um. Anfang März besinnt man sich in Hildesheim auf die einstig in Baden-Baden uraufgeführte „Prinzessin von Trapezunt“. Die Stiftung Palazzetto Bru Zane hat den kammermusikalischen Offenbach jüngst in Venedig gewürdigt, in Juni folgen bei ihrem Pariser Festival – und leider ohne Zusammenarbeit mit Keck und dem Verlag – die beiden unbekannten Werke „Maître Péronilla“ und „Madame Favart“. In Köln dirigiert immerhin François Xavier Roth die „Gerolstein“ mit Jennifer Larmore, und in Juni führt das Radio Sinfonieorchester Wien aus der Zweitfassung des „Orpheus in der Unterwelt“ ein ganzes, in König Neptuns Reich spielendes, etwa halbstündiges Bild auf, das seiner szenischen Auferstehung harrt. So hat wohl die bedeutendste Wiederentdeckung des Offenbachjahres bereist End 2017 in Straßburg stattgefunden. Dort ließ Eva Kleinitz, die mutige Intendantin der Opéra du Rhin, einen dezidiert politischen Offenbach exhumieren, zugleich Jean-Christophe Kecks jüngste Entdeckungstat: Sie gilt einem bellenden Vierbeiner als Gouverneur eines exotischen Operettenstaates in Lahore: „Barkouf oder Ein Hund an der Macht“; natürlich wieder eine Satire auf Napoleon III.
Übrigens auch auf aktuelle Potentaten und jüngste französische Revolten anwendbar, wie jüngst bei der begeisternden, freilich kurze Zeit später vom Weihnachtsmarkt-Attentat überschatteten Wiederaufführung mit Emmanuel Macron und den ihm lästigen Gelbwesten geschehen.
Seit ihrer Uraufführung 1860 an der Pariser Opéra-Comique, die erstmals Offenbach einen Auftrag erteilt hatte, wurde diese freche Farce, immerhin mit einem Textbuch von Eugène Scribe nie wieder gespielt. Wegen viel Ärger mit der Zensur und diverser Intrigen, die weibliche Hauptrolle wurde in zwei geteilt, die Verführerin Maïma als Sopran und die lautere Hundebesitzerin Balkis als Mezzo, beide Sängerinnen stritten und wurden mehrmals ausgetauscht, war „Barkouf“ nach nur sieben Vorstellungen abgesetzt worden. Es herrschte in Paris mal wieder Hass auf die Deutschen. Schlecht waren auch die Kritiken, selbst von sonst so hellsichtigen Hector Berlioz. Das Werk wurde nie verlegt, nur ein paar Einzelnummern erschienen, und beim großen Brand der Opéra Comique 1887 gingen alle Noten und Manuskripte verloren.
Aber Jean-Christophe Keck fand in einem Notenschrank der notorisch zerstrittenen Offenbach-Erben, eine handgeschriebene „Barkouf“-Partitur zudem in einer amerikanischen Universität eine Orchesterfassung, die dort unter einem falschen Namen archiviert worden war. So bosselte er dieses Bijoux in bewährt mühseliger Kleinstarbeit neuerlich zusammen. Zudem mussten mehr als die Hälfte der gesprochenen Dialoge neu geschrieben werden, was für Straßburg die Regisseurin Mariame Clément und der Dramaturg Jean-Luc Vincent so klug und heutig wie humorig verfertigt haben. Die Partitur überrascht weniger mit Hits (obwohl der Gouverneur eine rasante Revueabräumnummer hat), als durch ihre gleichbleibende, musikalisch gewitzt instrumentierte und farbenreiche, satirische, ja sogar surreale Qualität, wenn die Sprache zerfällt und nur noch gestottert und repetiert wird. Es gibt feingeschliffene Couplets, herrliche Ensembles, zwei schöne Vorspiele, schräge Chöre, eine gern als Opernparodie von Offenbach bemühte Verschwörerszene.
In Lahore straft der Groß-Mogul sein Volk ab, das regelmäßig seine Gouverneure aus dem Fenster wirft, und lässt einen Hund als Stadthalter einsetzen. Da diesen niemand versteht, muss seine frühere Besitzerin, Blumenverkäuferin Maïma, den viehischen Wouf-Willen übersetzen. Sie tut das natürlich in ihrem Sinne: Die Steuern werden, gesenkt, alle zum Tode Verurteilten (darunter ihr Freund) werden begnadigt. Das freilich passt besonders dem Großwesir Bababeck (herrlich aufgeblasen: Rodolphe Briand) so gar nicht. Er sinnt auf Hundemord und –todschlag. Fleur Barron ist als Balkis eine Augen- und Ohrenweide. Der farbige Tenor Patrick Kabongo hat als Liebhaber Saëb die schönste Stimme. Der Deutsche Stefan Sbonnik gibt akzentfrei den Anarchisten Xaïloum. Und ein wunderbar trotteliger Sidekick ist Loïc Félix als Eunuch Kaliboul.
Mariame Clément hat den vergnüglichen Dreiakter witzig-charmant, aber auch espritvoll-böse mit vielen Orangen als Waffen inszeniert, etwa wenn sich der Großmogul (spielfreudig: Nicolas Cavallier) als mit viel Glitter die Puppen tanzender Revue-Fan offenbart oder in einem Ensemble die Polit-Popanze Macron, Hollande, Ségolène Royal, Sarkosy tanzen. Optisch spielt das in einem von Julia Hansen ersonnenen, orange-funierbraunen Nordkorea mit geklontem Volk, doch ein wahnwitzig bis zu den höchsten Regalhöhen überladenes, kafkaeskes Archiv erweist sich später auch als Brunnen der Erinnerung. Und der viel zitierte Hund, bestens manipuliert im Sinne des Volkes von seiner früheren Besitzerin Maïma (quicker Sopran: Pauline Texier), hüpft endlich, kurz vor Operettenschluss, als kleine Schoßtölle mit Krönchen und Hermelinmäntelchen aus seiner monströsen Hütte.
Auch in der Politik ist eben nicht alles wie es scheint. Dafür fordern Volk und Vieh auf Transparenten „liberté, egalité, croquettes“, Freiheit, Gleichheit und Hundekuchen. Am Ende freilich winken huldvoll als neue Herrscher Saëb und Maïma in den Ouftits von Napoléon III. und Kaiserin Eugénie. Und Jacques Lacombe, der neue Musikchef des Hauses, lässt dazu am Pult des Orchestre symphonique de Mulhouse herrlich die singende-swingende Partitur moussieren, transparent und mozartklar. Ab 12. Oktober kommt die Koproduktion nach Köln, sonst interessierte sich kein Opernhaus für diesen zeitgeistig brillanten, durch widrige Uraufführungsumstände bisher um eine Theaterkarriere gebrachten Geniestreich. Leider.
Der Beitrag Total auf den Hund gekommen: Der Straßburger „Barkouf“ war wohl schon der stärkste Beitrag zum Offenbach-Jahr erschien zuerst auf Brugs Klassiker.