Eine Frechheit! Da sitzt man im Staatstheater Karlsruhe, einstmals eine so frühe wie verlässliche Pflegestädte bundesdeutscher Händeltradition auf alten Instrumenten, und dann das! Spielt da wirklich ein glitzriger US-Showpianist auf dem Klavier arpeggioperlend seifig das Larghetto „Ombra mai fu“! Vergewaltigung! #MeToo! Ein lästerlicher Frevel am Gott der Darmsaiten! Aber leider einer, der sehr, sehr viel Spaß macht. Denn wir befinden uns nicht etwa im alten Persien (darauf verweist später nur noch das gleichgeschlechtlich zwielichtige Etablissement „Tom of Persia“ im einschlägigen Vergnügungsviertel), sondern im etwas jüngeren Las Vegas der späten Seventies in der „Serse Show“, wo gerade wieder mal ein Talentwettbewerb läuft. Diesen Serse, den müssen wir uns als eine so pailettenüberkrustete wie haarspraybetonierte Selbstdarsteller-Mischung aus in die Jahre gekommenem Elvis und ewiggleichem Liberace vorstellen. Vor allem aber als bis in die letzte Federspitze und Schleppenfalte flamboyanten Countertenorstar Franco Fagioli, der gurrt und knurrt, verzückt mit den Wimpern wie den Trillern und den Tasten klimpert, dass es eine Wonne ist. Auf der Chaiselongue zum Fotoshoot rekelt er sich so professionell wie einst Marlene Dietrich. Also der perfekte Wiedergänger des Starkastraten Caffarelli, der einst die Rolle kreierte. Und damit niemand Lost in Las Vegas geht, hört sein Glamour niemals auf. Getreu dem ewigen Mr. Showmanship-Motto: „Zuviel des Guten ist wundervoll“.
Was übrigens ziemlich gut zum so üppigen wie semikomischen „Serse“ passt, Georg Friedrich Händels, später, trotzdem zweitberühmtester Oper mit dem evergreenen Hit an einen Baum. Der hier gleich zu Beginn auf die allerfeinste Art in seiner Erwartungshaltung wie seiner zu Tod bearbeiteter Bekanntheit auch von den Deutschen Händel-Solisten unter dem generösen George Petrou parodiert und liebevoll gestreichelt wird. Dem ist freilich zur swingend aufrauschenden Ouvertüre bereits ein Gardeoben-Quickie des Haupt-Entertainers mit der Bügelhilfe und Backstage-Geliebten Amastre in mindestens vier Stellungen vorausgegangen. Girls schwingen dazu – Barock goes Broadway – die Boa-Puschel, unter einem Klaviertastenbogen klatschen die Gäste in ihren Nachtclub-Boxen mit den Tischlämpchen.
Und trotzdem legt der in Personalunion als Serse-Bruder Arsamene wie Regisseur hier virtuos die Glitterstrippen ziehende und famos die Puppen tanzen lassende Max Emanuel Cencic ganz schnell wieder die Bremse um. Der will sein bisweilen weißes Inspirationspulver nicht zu schnell verschießen und verschnüffeln, schließlich ist die hochvergnügliche Aufführung vier Stunden lang. Und der findet zwischen der herrlichen, erstaunlich gut aufgehenden Showbiz-Satire auch immer wieder tiefenentspannte Momente und Stellen der emotional glaubwürdigen Einkehr. Denn der weiß, ähnlich wie der so gekonnt mit Erwartungshaltung wie Anspruch seines auf Vergnügen und Erbauung gepolten Publikums spielende und genial manipulierende Händel, dass eine Setlist eine gut gelungene Mischung aus Show Stoppers, Torch Songs, 5-for-12-Surprise Hits, Production Numbers und Ballads sein muss. Und die fädeln sich hier auf wie die Perlen der Arienkette.
Aus dem antiken Hellespont wurde der neuzeitliche Strip in Nevada, die Kriegsscharmützel mutieren zu einer fett orchestrierten PR-Kampagne für die neue Serse-Platte, die möglicherweise „Love & Handel“ heißen wird. In Boris Kehrmanns frechen deutschen Untertiteln wird an flapsigen Anspielungen und bösen Querverweisen nicht gespart. Die Vulgarität der Unterhaltungsindustrie wird gerne ausgestellt. Gleichzeitig wird aber auch eine anrührende Geschichte falscher Lieben und verpasster Kussgelegenheiten, eifersüchtiger Intrigen und verlorener Seelen mit neonleuchtendem Herz, narzisstischem Schmerz und sehr viel campsatt schwulem Humor erzählt. Bis hin zum surrealen Slapstick-Finale vor der Wedding Chapel, wenn plötzlich drei Revolver gezückt sind und selbst ein Superstar als männliche Primadonna nur die Braut bekommt die er verdient und die ihm vertraut. So werden Jux und Dollerei immer wieder schnell und plötzlich besinnlich und nachdenklich.
Das gelingt natürlich auch, weil in diesem sexuell fluiden Genderreigen oft falsch kanalisierter Leidenschaften und verkehrter Erwartungen Händels immer die Oberhand behaltende Musik stetig hinreißend ruhige Arieninseln setzt; wo sich dann Fagioli/Serse vor seiner Bikini-Belegschaft im Swimming Pool nur zur Gitarre als Crooner begleitet oder der als Mischung aus Hustler & Pimp, Stricher und Zuhälter angelegte Cencic/Arsamene hinter dem Pornoschnauz und der Ludenperücke die ganz große Traurigkeit aufklingen lässt. Das ist so professionell wie intelligent und genau inszeniert, mit bis zum letzten, muskeldefinierten Statisten elegant schön hindrapierten Tableaux, die von Rifail Ajdarparsic (Bühne), Sarah Rolke und Wicke Naujoks detailreich im Seventies-Look ausstaffiert sind und als flotter Revue-Reigen geschmeidig ablaufen.
Zwei der weltbesten Countertenöre geben hier dem Händel-Affen Zucker, sind zugleich Primo Uomo und zickige Diva, lassen aber auch die echten Frauen gut leben: die sopransüße Lauren Snouffer als ritch bitch Romilda, die samt ihrer verzückten Koloraturen gern das material girl heraushängen lasst, aber eigentlich nur ihrem Arsamene ergeben ist. Und trotzdem bei Xerxes, nicht Herrscher über Persien, aber über die Platten und Stammkunde im Bordell Babylon, im Bett landet. Der sich dann als Potenzwürstchen entpuppt – mit Badezimmer Posing und schlaffem Strumpf im scharfen Slip.
In diesem opulent trashigen Opern-Las Vegas, in dem Cencic etwas arg moralisch (zumindest geistig) die sieben Todsünden als Rat Pack zum Voguing anwackeln und posen lässt, ist keiner, was er scheint: Der schleimige Arsamene hat Herz, und Amastre (die wuschig tief orgelnde Ariana Lucas) verwandelt sich die meiste Zeit über von der rubensprallen Putzperle in die ruppige Dyke mit dem todwunden, weil liebestollen Herzen. Und auch Atalanta (Mut zum Mauerblümchen: Katherine Manley), Romildas missgünstig pfundige Schwester, lässt irgendwann los und sucht sich, nach einer ordentlichen Priese Koks, anderswo einen Mann, einen richtigen Mann.
Nur die vokal tiefgelegten Herren, die haben nicht viel zu melden: Romildas Papi Ariodate (orgelsatt: Pavel Kudnikov) mutiert zum leicht senilen Las-Vegas-Grammophone-Plattenboss im Heino-Look. Und Arsamenes Partner in Crime Elviro (kreischig: Yang Xu) versucht sich zwischendurch ohne großen therapeutischen Erfolg als Drag Queen.
Das schnurrt feinsinnig und gut geölt ab, wird aber auch aus dem Orchestergraben bestens akustikumspielt. George Petrou gibt temperamentvolle Tempi vor, die Hitfolge ist transparent gegliedert. Da scheint viel Atem, besonders für die leisen und langsamen Arien mit ihren farbenreichen Soloinstrumentornamentik. Manchmal wähnte man sich bei dieser belachten wie beklatschen, ja bejubelten Eröffnungspremiere statt bei den Karlsruher Händel-Festspielen im hippen Händel-München der Neunziger. Doch dann zeigt diese sophisticated Siebziger-Hommage, dass wir doch ganz und gar in einem barocken Heute singen und spielen: selbstbewusst, im vollen, stetig grenzerweiternden Umfang der darstellerischen, instrumentalen wie vokalen Mittel; spielfreudig und reflektiert, genau ausbalanciert im Tempo wie der Stimmung. Und nicht nur beim Saturday Night Fever, wenn verführerisch die „Serse Show“ schimmert.
Der Beitrag Hier schimmert die „Serse Show“: Franco Fagioli und Max Emanuel Cencic eröffnen die Karlsruher Händel-Festspiele mit einer glitzernd-intelligenten Liberace-Hommage erschien zuerst auf Brugs Klassiker.