Linz ist zwar Provinz, und gegenwärtig wogte da nicht nur die Donau, sondern auch die Welle der Kulturpolitik, weil die Stadt aus der Finanzierung des vor einigen Jahren neu erbauten Landestheaters aussteigen wollte – um das Geld dann freilich in andere, bisher vom Land bezahlte Projekte zu stecken. Eine etwas abrupte Umschichtung, die deshalb für viel Aufregung sorgte. Aber am seit dieser Saison von dem Tenor Dietmar Kerschbaum geleiteten Brucknerhaus (wo das ebenfalls betroffenen Bruckner Orchester als Residenzklangkörper residiert) gibt man sich ungebrochen programmatisch ambitioniert. Nicht einfach, bei einem beschränkten Etat und nur 200.000 Einwohnern. Trotzdem, bevor das Große Abonnement als nächstes Busonis Klavierkonzert serviert bekommt (freilich mit dem grandiosen Marc-André Hamelin als versiertem Solisten) wurde im gut gefüllten, beim Beifall etwas zurückhaltend regierenden Saal das extra für dieses Konzert aus Leipzig angereiste MDR-Sinfonieorchester präsentiert. Das spielte, ebenfalls nur in Linz, eine sehr besondere, vom Programmchef Jan David Schmitz um einen Zufallsfund herumgruppierte Combo. Ein Trio tanzend verlorener Söhne aus dem Alten Testament, sprich: drei Ballette vom Anfang des 20. Jahrhunderts, deren Hauptfiguren biblischen Gleichnissen entlehnt waren. Neben dem sinfonischen Fragment aus Richard Strauss’ „Josephs Legende“ und Sergej Prokofiews „Der verlorene Sohn“-Suite gab es nach der Pause sogar die Uraufführung eines weiteren Heilige-Schrift-Klassikers: „Cain“ von Marc Blitzstein über den ersten Menschheitsmord, den der Amerikaner in Paris leider nur für die Schublade komponiert hat. Eugene Tzigane dirigierte kompetent und farbschillernd.
Eigentlich wollte kein Geringerer als George Balanchine 1931/32 den rhythmisch vielgestaltigen Halbstünder choreografieren, der freilich etwas floskelhaft kurzatmig daher kommt, vor allem im ersten Teil zu wenig spezifische Handlungsatmosphäre aufweist. Leopold Stokowski sollte dirigieren, Marc Chagall den Mord an Abel, diesmal noch im Paradies und als Grund der Vertreibung ausstatten. Es sollte nicht sein, die schillernde Partitur wurde vergessen. Der 1905 geborene Blitzstein, schwul, links, eng mit Leonard Bernstein wie Kurt Weill befreundet und Bearbeiter der „Three Penny Opera“, Schöpfer der Politshow „The Cradle will Rock“ wie der Broadway-Opera „Regina“ nach dem Erfolgsdrama „Little Foxes“, war ohne Auftrag auf einem Europatrip zu dem geistlich-weltlichen Tanzwerk durch Balanchines „L’enfant prodigue“ inspiriert worden. Das war 1929 in der erdfarbenen, grobstricheligen Ausstattung von Georges Rouault die finale Uraufführung der Ballets Russes zu Lebzeiten Diaghilevs.
Die letzte Premiere dieser berühmten Balletttruppe vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war hingegen Ende Mai 1914 als ebenfalls finales international gesellschaftliches Kulturereignis einer untergehenden Epoche die Uraufführung von Richard Strauss’ „Josephs Legende“ – in der Chorografie von Michail Fokine, ausgestattet von José Maria Sert und Leon Bakst, getanzt von Ida Rubinstein und dem jungen Leonide Massine. Man hört den ganz Plüsch, die Verschwendung einer am Abgrund tanzenden Schicht, den Glitzer, die ziellose Sehnsucht in dieser schülstig-süffigen, exotisch üppigen, auch galant kitschigen, orgelumschwallten Musik. Das sinfonische Fragment, das die Hälfte der einstündigen Partitur umfasst, klang im Brucknerhaus klar und durchsichtig, eher abgeklärt. Eugene Zigane und die MDR-Musiker blieben betont nüchtern, die Himbeersauce fließt trotzdem. Umso stärker dann der Kontrast zum rhythmisch betonten, aber elegant-kühlen, schlanken, auch klanglich erdigen Prokofiew, als 20-minütige Suite ebenfalls die Hälfte des Balletts darbietend.
Vom 1930 komponierten „Cain“ wusste hingegen nicht einmal mehr die Weill Foundation als Rechteinhaber. Jan David Schmitz machte die Partitur ausfindig, von der freilich erst die 1000 Takte für 43 Orchesterstimmen neu geschrieben werden mussten. Blitzstein hatte an nichts gespart, aber trotzdem eine (Über-)Fülle von Handlungselemente in knapp 35 Minuten Dauer gepackt. Im ersten Teil werden die Figuren vorgestellt und charakterisiert, es folgen die Opfer, wobei (heute politisch gar nicht mehr korrekt) ausgerechnet der Vegetarier Kain mit seinen Früchte- und Gemüsegaben von Gott abgelehnt wird. Darauf ereignet sich der Totschlag und schließlich eine Auseinandersetzung mit dem Propheten Jehova. Der tanzt nicht, sondern ist nur als blecherne Baritonstimme aus dem Lautsprecher präsent. Adrian Eröd entledigte sich diesen stummfilmhaft anmutenden Theatertricks mit deutlicher Diktion.
Im zweiten Teil geht es dann in einem Zwischenspiel in die vom vertriebenen Kain gegründete Stadt Henoch, benannt nach seinem Sohn. Der Brudermörder also ist der eigentliche Begründer des Menschengeschlechts, alle tragen wir das Kainsmal. Bevor dieses im Finale bei einem zweiten Auftritt Jehova über der Leiche Kains verkündet, schlängelt sich aber Noema (wie bei Strauss die Sklavin Sulamith) bei einem raffiniert instrumentierten, mit viel Chromatik, wie überhaupt das ganze Werk unterfütterten Fest. Das Ballett braucht halt auch Schauwerte. Und versteckten Witz, denn dieses Odaliskensolo zitiert ausgerechnet „Brüderlein, komm tanz’ mit mir“ aus Humperdincks „Hänsel und Gretel“ in der Klarinette. In Zwanzigerjahre-Sachlichkeit spult sich das insgesamt ab, Blitzsteins Ausbildung bei Alexander Siloti, Nadia Boulanger und Arnold Schönberg hatte sich also schon bei dem knapp 25-Jährigen bezahlt gemacht. Und zu einem reizvollen Werk, geführt, das – 89 Jahre nach seiner Entstehung – die fruchtvoll stilpluralistische Partnerschaft des Balletts mit der modernen Musik in dieer Ära einmal mehr unterstreicht.
Der Beitrag Wenn biblische Söhne tanzen: Marc Blitzsteins Ballett „Cain“ wurde 89 Jahre nach seiner Entstehung im Linzer Brucknerhaus uraufgeführt erschien zuerst auf Brugs Klassiker.