Im letzten November, da bekam der Klassikbetrieb, Abteilung Zeitgenössisches Schnappatmung. Da wurde in der dafür nie vorgesehenen Mailänder Scala die erste und einzige Oper des 92-jährigen György Kurtág uraufgeführt. Ja, dieser stille Ungar, für viele in der Branche der letzte Säulenheilige der Tonsetzer, vom großen Publikum kaum wahrgenommen, weil er meist Miniaturen schreibt, sich nur drei Orchesterstücke hat abringen lassen, hatte es wahrgemacht: Er hatte „Fin de Partie“, Wort für Wort und Schattierung für Schattierung, und damit etwa 60 Prozent von Samuel Becketts einst berühmtem Drama in der französischen Originalfassung vertont. Die fassungslosen Jünger hatten darauf, je nach Verzückungsgrad, zwischen 10 bis 30 Jahre gewartet. Nun aber sitzt man beim Koproduzenten Dutch National Opera anlässlich von deren hochlöblichem Opera Forward Festival im ungleich besser geeigneten, weil intimeren Theater am Watterloo Plein und hört dem ebenfalls viel souveräner mit dieser ausgedörrten, floskelhaften, tiefgestimmten, kaum die Streicher nutzenden, trotzdem zwei Stunden langen Kammermusik-Partitur für 70 Musiker zurechtkommenden Radio Filharmonisch Orchest zu. Wieder steht Markus Stenz am Pult. Da sonst nicht viel passiert, kann man ihm ungestört zusehen, wie genau er schlägt, wie souverän er die lediglich im orchestralen Nachspiel als Gesamtklangkörper geforderten Instrumentalisten führt. Hier tönt das Cymbal, dort das Saxophon, Klavier, zwei Akkordeons, Schellen, die Tuba. Man hat viel Zeit, ganz entspannt darüber nachzudenken, warum ein ziemlich abgenudeltes Stück mit vier Alten, von denen zwei in Tonnen sitzen, einer im Rollstuhl schimpft und einer buckelnd humpelt, vielleicht doch keine so gute Opernvorlage ist. Aber will man das Görgy Kurtág vorwerfen, der ja sowieso noch nie von dieser Welt war?
Passenderweise kam der also am Ende seines Lebens mit einem Spiel vom Ende der Zeit. Einem Spiel. In der Endlosschleife. So wie der Autor sein Stück nie postweltkriegskonkret oder atomschlagsfinal deuten lassen wollte, so positioniert sich auch diese wahrhaft altmeisterliche Uraufführungsinszenierung von Pierre Audi: als Theater. Als Zimmerschlacht. Als schnell monotones Parlando-Wortgefecht mit oft gestisch überkonkret Mickey Mousing machender Musik. Und als sonst gar nichts. Die fantastischen „Endspiel“-Vier haben wieder mal einen großen Auftritt gehabt. Es könnten, der Look stimmt zumindest, dieselben sein wie bei der Uraufführung 1957. Der Zuschauer kann sich dabei ebenso bequem verstörungslos für elegant servierte Beckett-Stunden einrichten wie Hamm mit Hauskappe und dunkler Brille samt gemusterter Decke und blutigem Kopftuch in seinem Rollstuhl und dem weißes Hemd und graue Hosen tragenden Clov.
Die beiden sind wie ein unwirsches altes Ehepaar, weniger wie Herr und Diener; Liebende vielleicht? Viel Interaktion findet freilich nicht statt. Die Musik verlangsamt alles, außerdem hat Kurtág nicht verknappt, sondern 14 Szenen ausgeschnitten. Die jetzt als wie durch Schwarzblenden voneinander getrennte fünf Vignetten mit bröseliger Musik dastehen. Teil Zwei ist Nagg und Nell, den beiden beinlosen, ebenfalls gespensterweiß geschminkte Eltern von Ham in ihren Tonnen vorbehalten, Drei und Vier gehören dem bramarbasierenden Ham, eine Rolle, die angeblich 20 Prozent länger ist als selbst Wagners Gurnemanz; in Teil Fünf gewinnt dann auch endlich Clov ein wenig Kontur.
Das alles ereignet sich vor einer wie abgefackelt wirkenden, schmucklosen Hütte von Christof Hetzer, die wie eine Russenpuppe noch zwei halb aufgeschnittene, größere Außenhüllen hat, um bühnenmäßig wenigstens irgendetwas herzumachen, die sich zudem insgesamt ein dreiviertel Mal um die eigene Achse dreht und von Urs Schönebaum wunderbar plastisch wie schattenschlagend in Grau und Weiß ausgeleuchtet wurde. Piere Audi lässt in seiner völlig werkgetreuen, dienenden, dabei das wenige Geschehen geschickt an die Rampe gerückten Inszenierung Titane und Tiger der Rampe los, die freilich ziemlich zahnlos geworden sind. Audi ist ein guter Raubtierbändiger. Bei ihm kuschen und schnurren sie, bleiben diszipliniert, ohne Arien-Ausbrüche und Primadonnen-Manierismen.
Eine famose Männerwirtschaft. Der Bass Frode Olsen ist ein nimmermüd vokalisierender, greinender Hamm, ein Großtyrann mit meist domestizierter Stimme. Müde, aber bestimmt. Der kann auch schreien und zetern. Meist bekommt er aber auch so, was er will. So viel gesehen und erlebt, jetzt Ruhe. Wenn ihn nicht Clov auf Trapp halten würde. Der Bariton Leigh Melrose gefällt sich in eingeübten Ritualen, kommt trotzdem ins Schwitzen. Die Stimme wird gellend, kippelt und kehrt doch wieder zurück in den Wohlfühlbereich. Wozu sich aufregen? Er redet stets vom Fliehen und wird es doch nie tun.
Aus den Fässern tauchen Nell (Hillary Summers) und Nagg (der fast belcantistische italienische Tenor Leonardo Cortellazzi) als bleichgesichtige Klappmaulpuppen auf. Natürlich sind das auch Kurtág und seine Frau Márta: Philemon und Baucis als Komponistenadel, liebevoll sich kabbelnd, so etwas wie Gesangslinien entwickelnd. Die schönste Szene, die man gern mal isoliert als Senioren-Suite hören würde.
Insgesamt aber bleibt das alles statisch, harmlos, dramatisch unergiebig. Ein Schwanengesang der gefasst müden, dabei sehr genau ziselierten Art. Expressive Aphorismen. Kurtág und Audi haben wieder mal auf den Knopf gedrückt. Das Quartett hat sich bewegt, miteinander gesprochen. Nach absolvierter Vorstellung geht es zurück ins Magazin. Dieses „Fin de Partie“ ist freilich keineswegs das Ende der Oper oder gar der Abschluss der Nachkriegsmusikordnung. Dafür ist diese Sammlung von Szenen und Monologen viel zu fein und zu klein. Er ist höchstens eine Ehrenrunde für Beckett und Kurtág, der alterslosen Klassizisten, der Großen von Gestern.
Doch bei diesem Opera Forward Festival, wo das Amsterdamer Stagione-Haus geschickt Koproduziertes weltbekannter Komponisten mit von anderswo Eingeladenem mischt, von den fünf Novitäten eine hier uraufführt, wird eines deutlich: Das ist inzwischen mit seinen ästhetisch sehr divergenten Ansätzen das wichtigste Festival für Neues Musiktheater weltweit. Die längst bedeutungslos zusammengeschnurrte Münchner Biennale für Neues Musiktheater ist dagegen eine sich in Happenings verläppernde Insider-Veranstaltung, die eigentlich schon tot ist, es nur offensichtlich nicht merkt. In Amsterdam bekommt ein breites, normales, aber interessiertes Opernpublikum hingegen eine Starfantasie über „Caruso a Cuba“ von Micha Hamel geboten, eine Fiktion über den sich in seine „Aida“-Partnerin verliebenden legendären Tenor auf der revolutionsgeschüttelten Karibikinsel, von Johannes Erath auf einer Schellackschallplatte als Spielfläche inszeniert. Von der Ruhrtriennale kommt die performative Installation „Homo instrumentalis“ mit Musik von Aperghis, Kyriakides und Nono und aus Irland die filmisch-theatralische Novität „Second Violinist“, die einmal mehr, mit einem Libretto von Enda Walsh, komponiert von Donnacha Dennehy Werk und Wirken Carlo Gesulados umkreist.
Ein altes Beckett-Stück, ein alter Tenor, ein alter Komponist, ältere Moderne, auch nicht unbedingt, das was die Menschen von heute umtreibt, die vor allem auch an den Jugendlichen vorbehaltenen Off Days des Festival angesprochen werden sollen. Und auch die zweite großmächtige Novität des Festival wirkt eher ein wenig gestrig. Trotzdem überzeugt die Konsequenz und der Aufwand, der Oper eine Zukunft zu geben.
John Adams und sein bewährter, ebenfalls in Amsterdam gern gesehener Librettist und Regisseur Peter Sellars haben ein Stück über den kalifornischen Goldrausch fabriziert: „Girls of the Golden West“. Weil Adams seine Heimatgeschichte liebt und dort in der Gegend ein Landhäuschen hat. Und weil Sellars Puccinis „La Finaculla del West“ mag. Außerdem fragen sie sich, welchen besseren Weg könnte man in Amerika inmitten des gegenwärtigen moralischen Verfalls feiern? Was gibt es wichtigeres als ein Aufruf für das Streben nach Unabhängigkeit, Menschenwürde und die Chance auf tatsächliche Freiheit? Bei der Uraufführung in San Francisco im Herbst 2017 kam das freilich nicht so sonderlich an.
Die Geschichte der gar nicht goldenen, sehr schnell desillusionierten Girls ist das Ergebnis einer Textmixtur, die von Briefen einer vor Ort ausharrenden Dame Shirley, alias Louise Clapp, über zeitgenössisch Dokumentarisches bis zu Mark Twains „Roughing It“ reicht. Im Jahr 1849 gehörte Kalifornien übrigens noch zu Mexiko, die Cowboys und Schürfer sind diesmal hier die Emigranten. Es war eine Zeit, in der mutige Frauen Freiheit wollten und nicht selten untergepflügt wurden. Es war eine Zeit, in der Gier, Gewalt und Heuchelei herrschte. Und offen aufflackernder Rassismus.
Grant Gershon leitet wie schon in San Francisco diesmal das 67-köpfige Rotterdams Philharmonisch Orchest mit Energie, Souveränität und Inbrunst. Holzblöcke und Glocken, volles und reiches Blech wechseln in einer breiten Palette von Rhythmen und Synkopen. Adams pflegt weiter seine etwas ausgelaugten Minimalismus-Konzepte, im ausufernd faden ersten Akt zünden die kaum. Im zweiten, wenn die Individualitäten dieser insgesamt wenig sympathischen, sich kaum erklärenden Figuren klarer werden, geht man mehr mit. Der große Männerchor skandiert, brütet dumpf Hymnen, wirkt sehr pauschal geführt, aber eindrücklich auftrumpfend.
Die beiden Akte mit jeweils fünf Szenen beschreiben die Geschichte des Goldrauschs anhand dreier Frauenschicksale in der Mine, der Spielhalle, der Bar, den Wäldern und Bergen sowie dem Schlafzimmer. Sellars und sein Bühnenbildner David Gropman verfremden das zwischen Baumstämmen und vor einem schlammfarbenen Vorhang brechtisch-episch, ebenso der Librettist. Viele wird in der dritten Person kundgetan. Während metallisch die Hämmer im Orchester tönen, deutet ein goldener Bühnenrahmen das Bergwerk an, der von Bühnenarbeitern sichtbar hereingeschobene Salon hat zeituntypische Neonwerbesprüche. Ein Kutschfahrt ereignet sich vor eine Drehkulisse mit alten Landschaftsstichen. Selbst ein ausgestopfter Maulesel wird mal durchs Bild geschoben
Die Chinesin Ah Sing (sopranhell und gewandt: Hye Jung Lee) wurde von ihrer Mutter für sieben Dollar als Nutte verkauft und ist inzwischen 700 Dollar wert. Wir erleben das erste Rendezvous der Mexikanerin Josefa (schnippisch und stark: J’Nai Bridges) mit dem Barkeeper Ramon (der virile Bariton Eliot Madore) und Dame Shirleys (die pastos weichstimmige, aber auch strenge Julia Bullock) eingefahrene Beziehung zu ihrem stummen Ehemann, einem Arzt. Lieber ist sie mit gutaussehenden Liebhaber Ned Peters (Davóne Tines), einem entlaufenen Sklaven, unterwegs und schwingt sich immer wieder, als käme sie direkt aus Thornton Wilders „Our Town“ zur Chronistin auf.
Doch es braucht lange, bis dieser schwerfällige Dreistünder Fahrt aufnimmt, man sich für diese Schicksale zu interessieren beginnt. Was man im Filmwestern seltener sieht, hier aber dazugehört: die Aufführung von Shakespeares „Macbeth“ als schrille Star & Stripes-Party des 4. Juli auf einem abgesägten Mamutbaumstamm. Allerdings kommt hierbei in flüsternder Erzählung auch die dunkle Seite der „honorable Americans“ ans Licht. Hetzjagden auf Mexikaner, Chilenen, Peruaner, Chinesen. Die Indianer bleiben freilich ausgespart….
Am Ende geht die Vergewaltigung Josefas durch den plötzlich extrem negativ gezeichneten Minenarbeiter Joe Cannon (feurig: Paul Appleby) samt deren tödliche Verteidigung mit dem Messer plötzlich sehr schnell, ebenso die von seinem Freund Clarance (Ryan McKinny) angeführte Jagd auf sie, samt Lynchjustiz durch (angedeutetes) Hängen. Musikalisch kommt das überraschungslos tonal daher, nur selten müssen sich die ausnahmslos starken, präsenten Sänger aus ihrer Komfortzone locken lassen.
Was ist der Mensch wert im Goldrausch, wie stark ist der Einzelne, wenn er nicht nur der Natur, sondern auch seinen Mitmenschen ausgeliefert ist? Jetzt schwingen Sellars und Adams dann doch allzu sehr die Moralkeule. Natürlich ist das heutige Amerika gemeint, in dem sich wenig geändert hat. Aber diese im Vergleich zu seinem übrigen Werk doch musikalisch und dramaturgisch schwache Adams-Oper wird bei dem sowieso schon Gutmeinenden kaum aufrütteln können.
Der Beitrag Fantastische Endspiel-Vier und Golden Girls: das 4. Amsterdamer Opera Foreward Festival zeigt nicht nur Neues von Kurtág und Adams erschien zuerst auf Brugs Klassiker.