Leben wir wirklich in so freakisch-frankensteinischen Zeiten? Die Kreatur ist jedenfalls wieder da, alive and kicking: 2016 wurde sie ein Ballett von Liam Scarlett am Royal Opera House Covent Garden, zu einer Auftragspartitur von Lowell Liebermann. In Hamburg, erzählte ihn 2018, zum 200-jährigen Jubiläum des Grusel-Klassikers des damals 19-jährigen Mary Shelley, der Komponist Jan Dvorak als Weiterentwicklung und Adaption seiner Baseler Schauspielproduktion als „Gothic Opera“ zwischen Naturklängen, Schauer-Effekten und schwarzer Neoromantik nach. Die Regisseurin Haifaa Al Mansour hat einen feministischen Film über „Mary Shelley“ gedreht. Und jetzt gab es gerade innerhalb von wenigen Wochen gleich zwei „Frankenstein“-Oper. Wieder in Basel hatte Michael Wertmüllers und Dea Lohers „Diodati. Unendlich“ Premiere, das zunächst die Schreibumstände in der Villa Diodati am Genfer See in jenem, infolge eines Vulkanausbruchs in Indonesien, nasskalten Sommer 1816 beschreibt – so wie es auch schon Ken Russell in seinem Film „Gothic“ getan hat. Percy Bysshe Shelley, der Dichter, und Mary Godwin (spätere Shelley), die Dichterin, saßen dort mit dem exzentrischen Literaten Lord Byron sowie dessen schwangeren Geliebten Claire Clairmont. Man drogte sich zu, fabulierte, Leibarzt John Polidori liebte zudem den Lord. Und während „Der moderne Prometheus“ Frankenstein literarisch erschaffen wurde, werden die wiederbelebten schwarzen Romantiker, mit deutlichen Anleihen bei Friedrich Dürrenmatt, den Physikern vom heutigen, ebenfalls am Genfer See angesiedelten Teilchenbeschleunigerzentrum Cern ausgeliefert. So erweist sich das als eine dreistündige, schrille wie polystilistische Groteske, von Lydia Steier in kreischbunten Farben auf die Bühne gebrettert. Und am Brüsseler Théâtre del la Monnaie kam jetzt eine „Frankenstein“-Oper von dem Amerikaner Mark Gray auf einem Libretto von Julia Canosa i Serra heraus, die dem oft erzählten modernen Mythos in grau-kühler, filmisch unterfütterter La-Fura-dels-Baus-Optik ebenfalls einen neuen Thrill gibt. Und wir stellen fest: die Popularität von Doktor und Monster auf Bühne und Leinwand hat die Story allein ihrer Bekanntheit, aber eben auch ihren ungebrochen imaginativen Anziehungskraft zu verdanken.
In der Opéra de la Monnaie, da knirscht und dröhnt es elektronisch dumpf, das ewige Eis arbeitet hier, bevor sich der Vorhang hebt. Die Kreatur wird von Doktor Walton aus dem Permafrost des Nordpols aufgetaut, wie auf einem Tisch angerichtet und wieder zum Leben erweckt. Als gar nicht mehr kalter, aber unschuldig-blöder Ötzi wird er neuerlich auf die Menschheit losgelassen, die ihn (sein Schöpfer ist schuld) hässlich findet und zurückweist; was ihn, er kann ja nicht denken, zum Mörder macht. „Der moderne Prometheus“ wird diesmal dank der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur Álex Ollé und dem libanesisch-polnischen Dirigenten Bassem Akiki wiederbelebt. Ollé ist der Mastermind, der das Projekt schon 2011 angestoßen hatte. Jetzt entsteht es ganz aus dem ästhetischen Geist der „Science-Fiction“, die das Buch ja auch schon vorahnte, und die jetzt die Geschichte in die dystopische Zukunft einer neuen Eiszeit versetzt.
Das Ergebnis, inspiriert durch die Arbeit von Thomas Jorion und seiner Serie „Silencio“, wirkt stellenweise wie Livekino. In einem vereisten Amphitheater, unter einem runden Gitter, angeblich einem verlassen kommunistischen Hauptquartier in Bulgarien nachgeformt, spielen sich die Erinnerungen der namenlosen Kreatur meist als Filmbilder auf Gazeschleiern ab, oder in einer raumhohen Tonne mit Innenleben, die rauf- und runterfährt. Das ist poetisch, aber auch gewalttätig. Und der Doktor bleibt, um seine Erfindung zu schützen, passiv – selbst als diese erst seinen Neffen tötet (wofür ein Kindermädchen gehenkt wird) und schließlich auch seine Frau Elisabeth.
Das kalte Licht von Urs Schönebaum und die Videos von Video Frank Aleu erweckt monochromatische Assoziationen an Tarkowski, Neon, Metropolis, Untergrund. Das Monster des formidablen, in narbig nackte Gummihaut gekleideten, an Tenorgrenzen vokalgehenden Topi Lehtipuu rührt viel mehr an als sonst. Denn es wird im zweiten Teil menschlicher, verspürt Empathie, kann sich artikulieren. Es dominiert allerdings total die Show. Die anderen, alles glatzköpfigen Figuren, verblassen dagegen zu episodischen Charakteren und Schemen. Der Chor der Wissenschaftler von morgen in Helmen und glänziger Schutzkleidung steht den Pfarrer und in dunkles Tuch gehüllten Dorfleuten von 1800 gegenüber.
Das La Monnaie Orchestra spielt rein und klar und laut, aber es hat wenig Spannendes zu tun. Die Partitur hat kaum Farben und Spannkraft für Singstimmen, alles hört sich gleich an. Instrumental pendelt es zwischen Filmmusik mit viele fanfarensatten Märschen und einem Minimalismus, der an John Adams geschult scheint, an Steve Reich oder Philip Glass für die Mark Grey lange als Arrangeur und Soundesigner arbeitete. Die Stimmungen wiederholen sich, irgendwann fällt die Dramaturgie zusammen.
Der in Brüssel oft auftretende Bariton Scott Hendricks singt den Doktor Frankenstein mit arg monotonem, trockenem Timbre. Seine Frau Elisabeth ist die lyrisch zarte Eleonore Marguerre, die aber kaum Kontur gewinnen kann, ein harmloses Opfer bleibt. Ebenfalls ein Bariton ist sein Wissenschaftskollege und -konkurrent Robert Walton, den Andrew Schroeder warmstimmig interpretiert, der aber in seinem ambivalenten Verhalten gegenüber der aufgetauten Kreatur und dem von ihr wieder beschworenen Frankenstein auch nicht Recht klar positioniert ist. Hendrickje van Kerckhove gibt dem unrechtmäßig gehängten Kindermädchen Justine Intensität. Stephan Loges, William Dazeley und Christopher Gillett komplettieren die hochkarätige Besetzung.
Erschaffen aus dem Nichts. Hässlich und liebensbedürftig. Einzigartig. Fremd. Zurückgewiesen. Einsam. Verletzt. Wütend. Mordend, um den eignen Schmerz jemanden spüren zu lassen. Eine monströse Kreatur und ihr Schöpfer: Frankenstein, der Wissenschaftler, der, getrieben von Wissensdrang ein menschliches Wesen erschafft, das ihn und sich in den Tod treiben wird. Mary Shelleys Roman ist also bis heute politisches Statement, Zukunftsvision, Schauergeschichte und Roadmovie zugleich. Was diese Opern mal wieder zeigten. Auf höchst unterschiedliche und auch unterschiedlich gelungene Weise.
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