Nein, „Die Macht des Schicksals“ ist diese Woche für London, für Anna und Jonas reserviert. Aber die Opéra de Lyon geizte für die traditionell in den ersten Frühlingstagen (Sonne! Magnolien!) zum flotten Dreier gebündelte Festival-Trilogie des Stagionehauses auch ohne Verdi nicht eben mit unwahrscheinlichen, die Figuren stark in Anspruch nehmenden Lebenswindungen und –winkelzügen. Dazu hatte sich Intendant Serge Dorny diesmal drei sehr unterschiedliche Werke ausgesucht: Der gegenwärtig als Castorf der Ukraine gehypte Andriy Zholdak begeisterte mit Peter Tschaikowskys viel zu selten zu sehender „Zauberin“, der hier bestens eingeführte David Marton enttäuschte mit einer überschriebenen und auf die doppelte Spielzeit verlängerten Version von Purcells Ode zum langen Divenabschied „Dido and Aeneas“. Und zum Monteverdi-Finale wird die seit 1998 um die Welt gereiste „Il Ritorno d’Ulisse“-Inszenierung von William Kentrige und der südafrikanischen Handspring Puppet Company erwartet. Der Höhepunkt des Festivals „Leben und Schicksale“ ereignete sich also gleich zum Anfang, was auch seinen Grund in den hohe musikalischen Qualitäten von Tschaikowsky drittletzter Oper haben dürfte. Sirene, Circe. So mag man bildungsbürgerlich eine Frau nennen, die die Männer mit übersinnlichen Kräften anzieht, sie kirre macht und zu Opfern ihrer Lüste und Leidenschaften werden lässt. Aber eine Zauberin, das ist eine Hexe, eine, die mit magischen Mächten verbündet ist. Peter Tschaikowskys scheinbar herkunftslose „Zauberin“ Nastasja, genannt Kuma, ist eigentlich eher ein bezauberndes Fräulein. Sie führt eine Lokalität am Fluss, die man sich durchaus als eine Art von erotische Freuden verheißende Insel der Circe vorstellen kann: Hier können Männer sich hingeben, ihre bürgerliche Existenz vergessen. In ein Schwein wird hier niemand verwandelt. Kuma wird jedoch zum Spielball einer dysfunktionalen Herrscherfamilie, weil der von seiner Frau entfremdete Fürst Nikita sich für sie begeistert, ja, ihr verfällt. Sie hingegen liebt den Prinzen Juri, der sie zunächst auf Befehl seiner Mutter ermorden soll, aber dann ebenfalls ihren Reizen erliegt. Am Ende wird Kuma von der hysterisch überreagierenden Fürstin vergiftet, der Fürst aber tötet seinen Sohn und wird wahnsinnig.
Genau die richtige Vorlage für den bisher kaum mit Opern im Westen in Erscheinung getretenen Theatermann Andriy Zholdak, und der greift schon mit den ersten, dräuenden, freilich von Lyons Chefdirigenten Daniele Rustioni melodisch glühend gerundeten Akkorden in die Theatervollen. Schnell wird klar: Seine Hauptfigur in einem eher im Lyon von heute denn im Nischni Novgorod des 15. Jahrhunderts angesiedelten Setting ist der zwielichtige Fürstenberater Mamirow (Piotr Micinski singt und, mehr noch, spielt ihn aasig aalglatt und bassabgründig). Der ist hier ein Priester, nach vollzogenem Gottesdient lässt er sich nach Hause chauffieren, setzt seine Virtual Reality Brille auf und beamt sich via Google-Kuppelseite in die räudige Datsche von Kuma. Dort spinnt er dann sein Netz der Intrige, wir wissen bis zum Schluss nicht, ob es nur ein Spiel oder grausame Wirklichkeit ist. Die Hütte, Kumas Beischlafsaal mit Sicherheitstür und das spiegelbildlich konzipierte Fürstengemach sowie ein gotischer Kirchenraum mit einem geschnitzten Christus am Glühlampenwandkreuz ergeben sein äußerst versatiles, zwischen gleitenden Gardinen immer neu verschieb- und steckbares Bühnenbild. Simon Machabeli hat die darin frei flottierenden, aber auch gefangenen Figuren in schönsten Shabby Schick gekleidet.
Jeder beobachtet hier jeden, selbst im Christuskopf ist ein Kameraspion installiert. Keiner ist unschuldig, jeder hat sein Laster, auch der Zauberer Koudama (Sergey Kadalov), ebenfalls ein Kirchenmann, der sich mit seinem Gespielen im Beichtstuhl vergnügt. Jeder scheint hier dem anderen verfallen, von ihm abhängig, kommt aus dem Familien- und emotionalen Banden nicht los. Und zerstört sich schließlich. Mamirov versucht dieses Schach des Schicksals von seinem Spielbrett aus zu steuern, manipuliert, verfängt sich in Winkelzügen und scheitert schließlich auch. Zholdak überspannt wie sein Vorbild Castorf nicht selten den Regieeinfallbogen, aber er fasziniert mit seinen bisweilen surreal jedem linearen Erzählen spottenden Einfällen und seiner vielschichtigen Personenregie, die den Handelnden immer neue Facetten entlockt. Alle leiden und lieben sie hier, verletzen aber gleichfalls: Kuma, wunderbar leuchtend von Elena Guseva in den dunklen Sopranhimmel geschickt, versucht sich zunächst rauszuhalten, ihren Job zu tun, von dem man nicht so genau weiß, ob sie ihn gern vollführt. Und dann verliebt sich selbst sie, die offenbar ein besonders raffiniertes Bordell führt, wo schon anfangs jeder ihrer kräftig vokalisierenden Freier nach seiner speziellen Facon in Rollenspielen zwischen Bondage und Ballerinas glücklich wird.
Ihr Märchenprinz ist der als goldstaubwerfender Maharadscha aus dem Kleiderschrank tretende, mit schöner Tenorlinie aufwartende Migran Agadzhanyan, der sich aber dann doch als geistiges Kind erweist, an Mamas Rockzipfel hängt, viel zu spät aktiv wird. Er ist einer dieser melancholisch schwachen, letztlich verlorenen Tschaikowsky-Helden, in denen der übersensible, schwule Komponist seine eigene Lebenstragik spiegelte. Das große Liebesduett zwischen Kuma und Juri wird so zu einem russischem „Tristan“-Zweisamkeitsvergessen. Und doch hat der gar keine Chance gegen seine dominanten Eltern: den finsteren Fürsten Nikita (dunkel grollend kommt Evez Abdulla sogar aus dem Sportstudio) und die hysterisch eifersüchtige Fürstin Eupraxia, welche Ksenia Vyaznikova, selbst einen Diamantenslip als letzte Waffe der Frauen einsetzend, mit fleischigem Mezzo zwischen später Zarah Leander und russischer Carmen auf die Bühne fetzt. So eindrücklich wie diese vier schweren Hauptrollen sind auch all die kleinen, hier wichtigen Nebenrollen besetzt.
Die moritatenhafte Handlung hat Tschaikowsky mit einer kraftvoll strömenden, lyrisch kantablen Musik versehen. Da gibt es überwältigende Chortableaus, 15 Rollen, die sich einmal zu einem zwölfstimmigen Satz verdichten, mitreißende Hymnen und Lieder, ein loderndes Liebesduett und ein dramasattes, blechkrachendes Gewitterfinale. Das alles dirigiert Daniele Rustioni mit erzählerischer Kraft und schön im Fluss.
Umso krachender dann der Aufprall am nächsten Tag, wo der gewieft dekonstruierende David Marton diesmal zu seiner „Dido and Aeneas“ Fortschreibe nicht besonders viel eingefallen ist. Trotzdem muss man die doppelte Purcell-Zeit ausharren, denn dazwischen schiebt sich immer wieder der endlos seine E-Gitarre minimalistisch-modernistisch plingeln lassende, musikalisches Material knüllen, kauen und knautschende Kalle Kalima. Bis die Musik dann wieder ins barocke Idiom zurückruckelt, welches Pierre Bleuse mit dem traditionellen Opernorchester ordentlich sachverwaltet. Der Anfang gar scheint sich wie Wagners „Rheingold“ sanft aus dem Urgrund der Bässe zu erheben. Was schon das Originellste an klanglicher Umdeutung bleibt.
Wir befinden uns in einem Zelt für archäologische Erkundungen. Wo gegen die Zeit gebuddelt und gepinselt wird. Denn es sind die Götter Juno (Marie Goyette) und Jupiter (Thorbjörn Björnsson) die im Chiton und auf Englisch parlierend als mittelprächtige Schauspieler in den Trümmern von Karthago nach Opernresten suchen. Sie finden die Zukunft, Kabelsalat, ein Handy, eine Computermaus, die erst im Wasserbecken mit anderem Elektroschrott dekontaminiert und dann im Regal archiviert wird. Um später wohl zu den übrigen Dingen, Perückenköpfe, falsche Fingernägel, Chipstüten gelegt zu werden, die in den echten Opernfoyers unterm Glassturz als „Museum von heute“ prangen und die er Chor gern auf der Szene vorführt.
Im Heute agieren auch Dido im lila Seitenkleid (vokal etwas unterbelichtet: Alix La Saux), ihre beflissene Freundin Belinda (die nicht ganz alterslose Claron McFadden) und der unterbelichtete, aber gewissenlose Softie Aeneas (Guillaume Andrieux). Auf zwei Seitenbühnen haben sie ihr Büro und ein falsches Liebesidyll aufgebaut, was modisch, aber unergiebig mit Livekamera auf die Rückwand gezoomt wird. Nein „Didon et Ènée, remeberered“ erweitert nicht die Erinnerung an ein hier von Purcell für seine Waisenhaus-Produktion nur allerknappest bedachten Liebespaar um Entscheidendes. Es langweilt und schläfert ein, je länger da im Sand gewühlt und zwischen alten Opernknochen viel Staub ohne Ursache aufgewirbelt wird. Man gedenkt höchstens den paar Minuten als die grotesk-grantige Erika Stucky jodelnd, das Akkordeon quetschend und die Schneeschaufel schrappeln lassend als knallig grinsende Magierin und Sister Act voluminös die Bühne entert. Aber diese Zauberin vermag, anders als am Lyoneser Abend zuvor, nicht allein zu begeistern. Am Schluss wird alles wieder mit Kuste bedeckt, selbst den Göttern ist ihr tun sinnlos und fas geworden. Klappe zu, Purcell tot. Remember me? Didos Finalklage bleibt folgenloses Fan
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