Ist es echt so einfach, meine Damen? Da händigt man also am Theater an der Wien Peter Tschaikowskys selbst getextete „Jungfrau von Orléans“, selten gespielter, etwas verhetzt wirkender Versuch einer russischen Grand Opéra von 1881, einem Frauen-Duo aus. Und dann das: Straffe, wenig differenzierte Töne aus dem Orchestergraben unter der Noch-Grazer GMDeuse Oksana Lyniv und dazu ein wirre, dabei platte Regie der übermotivierten, aber wenig zielgerecht denkenden Lotte de Beer. Die fabriziert aus dem jungen schwärmerischen Bauernmädchen, das half, Frankreich von den Engländern zu befreien, dann von der gleichen Kirche erst als Hexe verbrannt und Jahrhunderte später heiliggesprochen wurde, als es schon längst die Nationalikone der Grande Nation geworden war, eine bleiche Plattitüde. Natürlich ist das einfach: Wir sehen und hören die Adoleszenzgeschichte eines wütenden Teenagers, dessen Hirn ein wenig von Popgrößen und Fantasywelten vernebelt ist, aber keine Auseinandersetzung darüber, was dieses, auf der Schillerschen Märchentragödie wurzelnde Mädchen zu seinem Glauben getrieben hat, wie es politisch benutzt wurde, und wie es trotzdem zu dieser politnationalen Größe aufsteigen konnte. Ein politischer Popstar, dann Spielball seiner Zeit. Wäre ja vielleicht auch zu opernkomplex.
Als vor einiger Zeit Anna Netrebko als Verdi-Variante der Johanna in goldener Rüstung in die Mailänder Scala-Bütt stieg, da war auch sie ein Verwirrte in einem Hospital, die Heilige und Teufel, Könige und Ritter nur als Wahnvorstellungen erlebte. Und auch in Wien sind es jetzt halt Hirngespinste einer Heranwachsenden in einer nicht realen Parallelwelt, wohlmöglich weil sie eifersüchtig ist, in der schicken Wohnloftküche ihren alleinstehenden Vater mit einer Gleichaltrigen, die ihr zudem ähnlich sieht, herumschnackseln zu sehen. Zwar verzehrt diese Johanna scheinbar ungerührt neben dem Sündenfall im grauen Haushoodie ihr Müsli, aber zurück im Hochbettzimmer mit dem Madonna-Poster an der Wand träumt sie sich in eine Gegenwelt: dorthin, wo sie mit dem Schwert und im Kettenhemd kämpft, und wo ihr als Emanzipationshilfe keine seligen Frauen chorisch beiseit stehen, sondern Beispiele weiblicher Selbstbestimmtheit wie Elizabeth I., Frida Kahlo, Rosa Luxemburg, Marlene Diedrich, Madonna, die Pussy Riots und – ausgerechnet Margaret Thatcher.
Damit ist nach 15 Minuten, wenn der erste Ritter zum Jungmädchenkammerlfenster einsteigt und Johanna mit Tarnfarbenrucksack in eine imaginäre Super-Woman-Existenz entfleucht, eigentlich schon alles auserzählt. Die Historie taucht in Gestalt des formidabel, aber auch kompakt singenden Schoenberg Chors Erwin Ortners in rot- und rosafarbenem Mittelalterdress auf. Auf der meist leeren Bühne von Clement & Sanôu drehen sich Jugendzimmerversatzstücke und ein Bäumchen. Zum Kampfe geht es in die Lüfte als Fliegeballett wie im Asia-Martial-Arts-Movie. Zum Königshof des schwächlichen Karl VII. fällt Lotte de Beer nicht viel mehr ein, als ein debil dauergreinender Charaktertenorkönig (Dmitry Golovnin) mit Brille samt dekorativ posierender und vokalisierender Maitresse Agnès Sorel im durchsichtigen Spitzendress (Simona Mihai). Die erfreuen sich an einem albern-anzüglichen Kinderballett (der ursprüngliche Tanz der Zwerge). Des Königs kirchlicher Beistand ist natürlich ein ebenfalls korrupt schmieriger Witzfigur-Erzbischof (Martin Winkler schreit ihn auch so).
Nach der Pause erlebt Jeanne erste Liebe mit dem kumpelhaft netten, harmlos, aber druckvoll intonierenden Tenor Kristján Jóhannesson als Ritter Lionel. Der vollzieht sogleich die Defloration, wiederum im Backfischbett. Dort wird ein blutiges Lacken geschwenkt, dem weitere, aus der Bettstatt gezogene folgen, die nun die Krönungskathedrale in Reims so geschmack- wie prunklos symbolisieren sollen. Samt Lichterdom sieht das, nicht weit weg vom Hermann-Nitsch-Land, eher aus wie eine allerletze, verunglückte Schüttaktion, ganz ohne Orgienmysterientheater. Feminismus zum Abgewöhnen. Hier begegnet die den sich verkrampfenden (schwangeren?) Bauch drückende La Pucelle, die Lerche Genannte (auch hier nicht thematisiert) neuerlich ihrem am Wegesrand „Le Monde“ lesenden, bigott kreuztragendem Vater, der mit den deplorablen Stimmresten des Willard White sie noch dumpf-trockener verflucht als es in der Partitur steht. Raymond Very als Johannas Verlobter klingt nicht viel schöner.
Von König, Kirche und den Umständen in Gestalt des bösen Ritters Dunois (der ordentliche, hier seinen weichen Bariton anstrengen müssende Daniel Schmutzhard) zum Verbrennungstod verurteilt, steht wiederum das Double an einem rotlichtfunzelnden Baum, wird gesteinigt und schließlich von der echten Johanna für ein besseres Mythen-Nachleben befreit. War das alles die Rache der wütenden Tochter an des Vater Amour fou? Am Ende steht sie jedenfalls mit leeren Händen an der Rampe. Ein bisschen billig das.
Ein bisschen billig ist natürlich auch Peter Tschaikowskys ungleichgewichtige, wie stets bei ihm aber melodiensatte, ja –pralle Partitur. Oksana Lyniv, die im Graben nicht nur gern die Hosen anhat, sondern auch kräftig zupacken kann, dirigiert bei ihrem Wiener Operndebüt die rasch regierenden Symphoniker mit einer Art eiserner Kampfhand. Das hat Temperament und Schwung, gerät aber in dem trocken Haus schnell zu laut und knallig. Das Dauerfeuer ermüdet ein wenig, trotzdem gelingen ihr aparte Farbkombinationen und auch auf einige lyrische Momente lässt sie sich ein.
Ermüdend freilich klingt auch die einmal mehr im Theater an der Wien über Gebühr eingesetzte Lena Belkina. Die helle, lyrische, wenig individuelle Mezzosopranistin singt die verbreitete Fassung der ursprünglich für hohe Stimme komponierten Oper, die Waltraud Meier und (als letzte, bequem liegende Rolle) Mirella Freni gern reaktiviert haben. Und sie schreit viel, ein ältliches Vibrato spreizt sich. Die Ukrainerin Belkina mag vom Timbre besser in dieses slawische Ambiente passen als in ihren ungenügenden ausgefüllten Barock- und Rossini-Rollen; toll, gar überzeugend ist es wieder nicht. Auch steht sie ständig als um Anerkennung heischendes Kind wie neben der Rolle. Da ist zu viel Behauptung, als dass es künstlerisch eingelöst würde.
Trotzdem schön, mal wieder der Tschaikowsky-Version der Johanna-Geschichte zu begegnen. Das Theater an der Wien hat sie zudem sinnvoll eingebettet in konzertante Aufführungen von „Mazeppa“ und „Jolanthe“ sowie des von Vladimir Fedosseyev aufführungsbereit gemachten „Undine“-Fragments. Zudem wurde in Hildesheim kürzlich die reizvolle Weihnachtsmärchenoper „Die Pantöffelchen“ gespielt. Und in Lyon gab es tags zuvor „Die Zauberin“, die ebenfalls schon effektvoll das Theater an der Wien in einer Christof-Loy-Inszenierung präsentiert hat. So ist Tschaikowsky, der immerhin 10 vollendete Opern hinterlassen hat, inzwischen nicht nur mit seinen beiden berühmten Puschkin-Vertonungen „Eugen Onegin“ und Pique Dame“ im Repertoire präsent. Wobei die Wiener Gerüchteküche von einer neuen „Pique Dame“ an der Staatsoper munkelt, in der endlich Anna Netrebko ihr lange überfälliges Rollendebüt geben soll.
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