Was soll das sein? Ein heruntergekommene, aber immerhin noch einigermaßen weiß gekachelte Waschkaue? Ein Theaterraum? Ein Ballettsaal? Ein Fitnessstudio? Oder gar ein Schlachthof? Denn blutig wird es auch. Aber Katja Haß’ multifunktionaler, auf den ersten Anschein schäbiger, dann immer wieder, auch durch die plastische Licht von Reinhard Traub wandelbarer Einheitsschauplatz, den er für diesen „Prinz von Homburg“ an der Staatsoper Stuttgart entworfen hat, ist das alles und noch viel mehr. So wie auch das immer noch packende Kammerspiel, welches Hans Werner Henze darauf als Oper destilliert hat. Ein Jüngling kämpft darin – gegen sich selbst und gegen das System. Das heißt Preußen, aber auch Deutschland, es geht um Kadavergehorsam. Der Prinz von Homburg soll hingerichtet werden, weil er entgegen des Befehls seines fürstlichen Onkels gehandelt, trotzdem die Schlacht bei Fehrbellin gegen die Schweden gewonnen hat. Der dichtende Fantast Heinrich von Kleist erschuf sich so 1811 ein positives, starkes Preußen. Der pazifistische Fantast Hans Werner Henze, den Schrecken des Zweiten Weltkrieges entronnen und im Verein mit seiner Librettistin Ingeborg Bachmann, komponierte daraus 1960 trotz allen Säbelrasselns eine höchst fragwürdige, ja anrührende, auf das individuelle Schicksal dieses fast naiven Prinzen konzentriertes Musiktheater einer Selbstfindung. In Stuttgart wurde diese so theatralische, soghafte Musik – bei leider in der dritten Vorstellung nicht sonderlich gefülltem Zuschauerraum – vom GMD Cornelius Meister und dem Staatsorchester als scharfzüngiges preußisches Märchen rhetorisch und klanglich überzeugend zum Tönen gebracht. Und wie schon 2009 in der letzten prominenten Produktion von Marc Albrecht, Christian Gerhaher und Christof Loy im Theater an der Wien, so inszeniert Stephan Kimmig minimalistisch eine Charakterstudie, die aus dem angedeuteten Rokoko direkt in den bundesrepublikanischen Konformismus der spießigen Sechziger führt – aber alles Militaristische gekonnt ausspart. Und, anders als Loy, noch weiter geht, moderner wird, zu den 68er Protesten führt, diese aber im Schlagwort-Gewand heutiger Politparolen. „In Staub mit allen Feinden Brandenburg“ wird jetzt mit „Diversity“ und „Wir“ beantwortet. Ist deshalb aber eine Gesellschaft weitergekommen oder diskutiert sie immer noch?
Schon das erste Bild ist stark „halb wachend, halb schlafend“ lässt Kleist den siegreichen Prinzen nach der Schlacht „Sich träumend, seiner eignen Nachwelt gleich, Den prächtgen Kranz des Ruhmes einzuwinden“. Kimmig aber zeigt den Prinzen in roten Trainingshosen auf einer Leiter, um ihn, fein arrangiert und mit Taschenlampen in anleuchtend eine graumäusig eingekleidete BRD-Gesellschaft im Polyesterlook. Einer trägt Erich-Mielke-Hütchen, die Hofschranzen sind mit Schärpen behängt, selbst die Kurfürstin prunkt mit Krawatte. Nur Prinzessin Natalie, des Prinzen Braut, trägt Existenzialistenschwarz zu ebensolchem Bob und Kirschmund – eine märkische Juliette Gréco, aufbegehrend, doch domestiziert. Auch wenn ihre Handschuhe die eines Boxers sind. Vera-Lotte Böcker singt sie mit rebellisch loderndem Sopran.
Kimmig spielt gekonnt mit dem Stilen und Zeiten, der Hof- und Soldatendrill ist hier an die Ballettstange verlegt, wo selbst der leicht senile Kurfürst, den Stefan Margita als starsinnigen Politgreis wunderfein tenorcharakterstudiert hat, sein Morgentraining absolviert. Fitness ersetzt Militär, Selbstoptimierung Unterwerfung. Da werden, filmblendenartig von einer eisenfarbenen Courtine getrennt, zwar Fahnen geschwungen und man macht sich mit eimerweise Blut schmutzig, aber insgesamt bleibt Kimmig ein nüchterner Raisonnier. Jeder ist hier irgendwie ein Schleimer, Speichellecker, Profiteur, Kriegsgewinnler, die rückradlose Neid- und Nickgesellschaft funktioniert. Selbst die Tante Kurfürstin (wie in Wien die hinreißend verknöcherte Helene Schneiderman) hat schon resigniert, sie ist perfekt personifiziert, repräsentiert. Doch hat sie, wie auch die auf kaum Handlungsspielraum. Kimmig zeigt sie in ihrer Szene mit dem Prinzen, der um Gnade bitte, beim Pflegen der Waffen der Frauen: Sie cremt sich aus der Nivea-Dose die immer noch makellosen Beine ein.
Der fokussiert tenorklingende Kurfürst und der sanfte Tenor Moritz Kallenberg als untröstlicher Freund Graf Hohenzollern stehen an der Spitze einer fein ausdifferenzierten Offizierstypenbrigade, trotzdem gehört dieser packende, in seiner Gewissensnot so spannende Abend einzig und allein dem Prinzen. Das war so seit das Stück von Wolfgang Sawallisch und Nikolaus Lehnhoff 1991 in München neuerlich wachgeküsst wurde, mit François Le Roux, Thomas Hampson, Matthias Goerne, Dietrich Henschel und Christian Gerhahrer so. Und ähnlich ereignet e sich jetzt mit Robin Adams, der diesen Träumer als sehr heutigen Nerd mit jeder Faser im Spielen und Singen mit lyrisch kompaktem Bariton plausibel macht. Mit einem wütenden Furor und einer zerbrechlichen Zärtlichkeit, Schutz heischend und Angst einflößend, an sich selbst zweifelnd, am Rand des Abgrunds, der Wahnsinn heißt. Als Tagtraumtänzer und Nachtwandler. Der vokal wie scharfkantig geschnitzt wirkt und sich doch weich abrunden lässt.
Ein sehr deutscher (Anti-)Held, der. Der sich final in einem schwarzen Glaskäfig, ganz weit vorn, der Staatsraison unterordnet und deshalb von ihr begnadigt wird. Der Form ist Genüge geleistet. Vorher aber tobt und wütet der Homburg, bittet und fleht, hört in sich und ruft es hinaus, verzweifelt und begehrt auf. Da zerbirst einer beinahe an dem, was sich hier unter der Staatsräson ducken soll, und resigniert am Ende. Da freilich, vorher lief er schon ohne Hose oder Hemd immer mehr außer sich durch die Szene, träg er freilich sein weißes „Freiheit“-Shirt zur Plastikfesselfixierung und wird doch errettet: Ein Traum, was sonst? Am Ende stehen sie alle da, an der Rampe, die gesellschaftspolitische Utopie, und halten vereint ihre Banderolen in Form kreischbunter Fußballfanschals hoch: „Welt“ steht da und „Mitgefühl“, „Vision“, „Neugierde“, „Fraternité“. Und die aufspringenden Saaltüren, Freunde, weißen ins Offene. Wir wollen es mal, zweifelnd schon, glauben.
Die nach „O, Unsterblichkeit, bist du ganz mein! Und „Glanz der tausendfachen Sonne“ schmeckende, nach „stille Aetherräume“ und „Nachtviole lieblich“ duftende Musik aber kostet Cornelius Meister schön aus. Da schaffen ferne Trompeten und leise Trommeln verweht militaristische Atmosphäre, da klimpert sachlich das Klavier in den Diskursen um Gehorsam und Befehlsverweigerung, Schuld und Sühne. Da geht es aber auch laut und knallig zu. Immer regiert aber der von Hans Werner Henze so formidabel beherrschte deutsche Ne-Belcanto der Nachkriegs-Moderne, scharf charakterisierend, eben nicht nur parlandesk, sondern sich mit große Emphase gefühlsstark aufschwingend.
Diese wichtige Aufführung wurde live gestreamt, wie Weiteres künftig in Stuttgart, abe mehr noch: der unermüdliche François Duplat hat sie für sein BelAir Classics-Label auch aufgezeichnet, es wird eine DVD-Veröffentlichung geben, die zweite, nach der Münchner Musteraufführung, die zeigt, wie wandelbar diese wertvolle Oper zwischen empfindsamer Individualität und Dodekaphonie-Nüchternheit ist. Und der Schott-Verlag hat dafür sogar, Henze zu Ehren, auf die Tantiemen verzichtet. Lobens- und nachahmenswert.
Der Beitrag Vom Wirtschaftswunder zum „Wir“: Stephan Kimmig aktualisiert clever Henzes „Prinz von Homburg“ an der Staatsoper Stuttgart erschien zuerst auf Brugs Klassiker.