Dänemark gilt nicht unbedingt – wie ganz Skandinavien – als Land der Oper. Das hat sich zwar im 20. Jahrhundert sehr geändert, aber das historische Repertoire aus Nordeuropa ist überschaubar – zumal Finnland und Norwegen erst seit 100 Jahren wirklich unabhängig sind. Zwei Werke aber gelten in Dänemark als nationale Opern. Zum einen Carl Nielsens liebenswürdige, auch ein wenig melancholische Komödie „Maskerade“ nach Holberg von 1906, die inzwischen gelegentlich auf den internationalen Spielplänen auftaucht. Und die düster-tragische, fanfarensatte, chorprächtige Historie „Drot og Mask“ des 45-jährigen Peter Heise, der, ein Jahr nach der Uraufführung, 1879 starb. Erzählt wird in „König und Marschall“ ein weit zurückliegendes Ereignis der dänischen Geschichte, die ungeklärte Ermordung von König Erik V. in der Scheune von Finderup im Jahr 1286, an der wohlmöglich der Befehlshaber Stig Andersen beteiligt war, welcher hinterher verbannt wurde. Aber: Nix Genaues weiß man bis heute nicht, deshalb ein feines Fressen für das Theater wie die Oper. Und deshalb spinnt Heise hier – feine Parallele nach Schweden – einen ähnlichen Handlungsfaden wie Giuseppe Verdi in seinem „Ballo in maschera“, der in der Urfassung die Ermordung von König Gustav II. bei einem Stockholmer Opernredoute thematisierte. Der war zwar in realiter schwul, trotzdem lodert im Melodramma die verbotene Leidenschaft mit Amelia, der Frau seines Freundes, der so natürlich zu seinem Feind wird. Und auch Opernkönig Erik lässt nichts anbrennen: Erst vergnügt er sich beim Jagen im Wald mit der Köhlertochter Åse, auf die auch sein Adjutant Rane mehr als nur ein Auge geworfen hat. Dann vergewaltig er zwischen Akt eins und zwei Ingeborg, die Frau von Marschall Andersen, die dieser zu ihrem Schutz bei seinem Souverän unterbrachte, während er für Dänemark in den Krieg zog. Soviel Undank kann nicht ungestraft bleiben, zumal Ingeborg auch noch die Schwester von Rane ist, der so doppelt Grund für ein Intrigengespinst gegen seinen Herrscher hat. Zum Finale liegt Erik, der fatalistisch sein Ende für sein schlechtes Benehmen schon ahnte, in seinem Blut. Das Volk ist entsetzt. Und das Kopenhagener Publikum klatschte heftig, auch wenn es in der dritten Vorstellung der prestigereichen Neuproduktion zahlreicher hätte erscheinen können. Aber auch die Dänen wollen eben lieber Tosca oder Tristan sterben sehen. Und obwohl es „Drot og Mask“ nie wirklich auf die globalen Bühnen geschafft hat, das Koniglige Theater, zudem ja inzwischen auch die Oper und das Ballett zählen, hat das stets im Spielplan vorrätige Werk nach langen Jahren endlich mal wieder neuinszeniert. Generalintendant Kasper Holten hat Regie geführt, der Musikchef und Dänemarks profiliertester Dirigent Michael Schønwandt stand am Pult. Und die nationale Sängerelite bevölkerte die Bühne. Mehr dänisches Musikdrama geht nicht!
Peter Heise hat teilweise, wie viele Skandinavier, in Deutschland studiert und er kennt seinen Wagner genau. Will ihm aber stilistisch nicht folgen. Obwohl auch er keine Arien mehr komponiert. Die fünf Hauptpersonen in „Drot og Mask“ singen ein dramatisches Parlando, das sich eher selten zu Monologen verdichtet, höchstens ein Tanzlied und Balladeskes gibt es. Das Orchester hat einen wichtigen, kommentierende Part, ebenso der Chor. Hätte Johannes Brahms eine Oper komponiert, so spätromantisch schwer, doch transparent, melancholisch dunkel hätte es klingen können. Und auch das amourös zugespitzte Sujet hätte ihm gefallen. Vor dem geschichtlich determinierten Hintergrund entfaltet sich eine Privatgeschichte, obwohl alle Figuren auch Funktionsträger sind.
Kaspar Holten, wahrlich kein Bilderstürmer entfaltet das weitgehend statisch und unaufgeregt, holt aber das Gestern und Heute präzise und folgerichtig durch seine auf vielen Ebenen zwischen Mittelalter und Moderne funktionierende Ausstattung herein. Das ist kein Moritat über einen alten Mord, sondern eine heutige Parabel über Macht und Anstand. Für Bewegung sorgt Philipp Führhofers geschickt gestaltete Drehbühne. Da winkeln sich Zimmerelemente eines lüsterverzierten Palasts, der mit Originale zitierenden Bilderszenen von Erics Ermordung wie mit dänischen Naturstimmungen geschmückt ist. Aus dem Frühlingswald des Anfangs, hier ein Zitat, wo der König die als Kellnerin gekleidete Åse aufpickt und anschmachtet, wird am Ende eine fast apokalyptisch anmutendes, umwölktes Wintertableau in kaltem Licht. Die wie ein Bilderbogen multifunktionale Bühne kann offen oder geschlossen wirkten. In den Spiegelbegrenzungen an den Seiten doppeln sich zudem die auf ihrer Rückseite bunkerartige Betonmauern offenbarenden Dekoelemente zum Labyrinth. Das hält Menschen wie Leidenschaften gefangen. Auch Anja Vang Kraghs nur am Anfang noch bunt aufgehellte Kostüme lassen den Handlungszeitraum im Ungefähren, wollen ein ewiges Spiel zwischen Macht, Liebe und Rache zeigen.
Druckvoll aber schön schallen die Chöre, Michael Schønwandt hat alle Kollektive perfekt im Dirigentengriff. Er kennt die Oper, hat er doch schon 1993 die maßgebliche Gesamtaufnahme bei Chandos vorgelegt. Wie ein ruhiger dunkler Fluss laufen da die Streicherbewegungen der Königlichen Kapelle dahin. Man schwelgt gekonnt in Nationalromantik, durchbrochen von aufzuckender Leidenschaft. Auch das Holz klingt hier erdig, nur die Blechbläser sorgen für schwarzen Glanz. Ein fatalistischer Ton herrscht hier vor, keiner kann der Macht seines Opernschicksals entrinnen, ist es auch so mutwillig verursacht wie bei dem als gebrochene Gestalt gezeichneten König Erik. Peter Lodahl singt den mit ausdrucksstarker, nimmermüder, dabei heldisch geforderter Tenorstimme und ist auch ein facettenreicher Darsteller. Er gibt dem moralisch zweifelhaften Monarchen ein menschliches, beinahe erlösendes Glühen.
Johan Reuter ist als ebenfalls nicht nur Schwarz und Weiß gezeichneter Marschall Andersen ein markanter Stamm in der Basslandschaft, gegen dessen Wut und flackenden Zorn singt keiner an. Seiner Frau Ingeborg gibt Sine Bundgaard mit ihrem kompakten, höhensatten Sopran Wucht und Verletzbarkeit, faszinierend ist sie hin und hergerissen zwischen Rachedurst und Selbstekel. Sofie Elkjær Jensen zeichnet eine lieblichere, aber durchaus vokal zupacken könnende Åse, die am Ende traurig an der Leiche Erics wieder auftaucht. Ein schillernder Spielmacher, Loge nicht unähnlich, ist der Rane des längst zum Charaktertenor mit bisweilen gellenden Spitzen gereiften Gert Henning-Jensen, selbstsicher und eitel, aber auch echt wütend.
Eine mustergültig fesselnde, moderne Aufführung dieser lohnenden Oper, der man gern auch einmal außerhalb Dänemarks begegnen würde. Hoffentlich wird sie wenigstens für die DVD bewahrt
Der Beitrag Brahms’ nie komponierte Oper: „König und Marschall“ von Peter Heise eindrücklich in Kopenhagen neuinszeniert erschien zuerst auf Brugs Klassiker.