An der Tokioer Bahn-Station Ueno staut es sich. Massen drängen in den Park, die Millionen Menschen dieser sonst so sanft fließenden Stadt sind mal wieder deutlich spürbar, weil zumindest einige Tausend davon mit ihren Kindern in den Zoo und zu der Allee aus blühenden Kirschbäumen strömen. Man sieht die wie leise rieselnder Schnee fallenden Blättchen beinahe vor lauter Selfiesticks nicht. Ich habe sowieso keine Zeit und nur einen kurzen Blick dafür, mein Hanami-Moment kommt erst noch. Es geht weiter, wieder in die University of Arts, zu „Rigoletto“, Riccardo Muti und seiner Italien Opera Academy im Rahmen des pink ausgeflaggten Spring Festivals, oder harusai, wie es hier heißt. Ein bewegliches Museum hat man auch aufgestellt: Fototafeln der Ballets-Russes-Stars, die sich in einem Wasserbecken vor dem Bunka Kaikan, der städtischen Konzert- und Opernhalle spiegeln, die ja der japanische Corbusier-Schüler Kunio Maekawa 1961 in so wuchtig wie verspielter Beton-Moderne gebaut hat. Gegenüber zeigt das von Corbusier selbst entworfene Museum Westlicher Kunst eine ihm gewidmete Ausstellung – viel Bildung im Vorübergehen. Auch das Metropolitan Museum und die Konzerthalle der ersten Musikschule des Landes in einem alten Holzhaus liegen am Weg.
Innen haben die vier Dirigierschüler, die auch nächstes Jahr zur „Macbeth“-Akademie wieder kommen dürfen, heute nur zuzuschauen. Riccardo Muti übernimmt jetzt Sänger und Orchester selbst. Denn er wird, da diesmal nur eine statt zwei Akademiewochen möglich war, das Abschlusskonzert dirigieren. Deshalb spielt er jetzt die ausgewählten Szenen ruhig und effizient durch. Wieder ist der Saal propvoll, alles hängt an seinen Lippen. Er geht es chronologisch an. Nichts aus der ersten Szene, aber dafür die gesamte zweite, bis auf das Chorfinale. Gern hört er dem satten Blech zu, das sehr flexibel strömen kann, jede Anmerkung sofort und richtig umsetzt. Hier wird lange schon nicht mehr nur mechanisch auf hohem Niveau nachgespielt, die japanischen Instrumentalisten sind in den letzten Jahren viele beweglicher und mutiger geworden. Muti spricht davon, wie sich alle Personen, die mit Monterones Fluch zu tun haben, um denselben Ton vereinen. Er lässt die Posaunen den Klang eindunkeln und aufhellen, arbeitet an Nuancen. „Seht mal“, wendet er sich zu den jungen Dirigenten, „ich dirigiere zwar nach unten, hebe aber am Taktende den Stab an, so werden alle unwillkürlich heller.“ Kleine Tricks vom Könner.
Dann erfreut er sich an den vibratosatten Celli, die das berühmte Sparafucile-Thema einleiten. „Ich bin jedes Mal wieder selbst überrascht vom Reichtum und der Effizienz dieser Partitur, die so oft durch Fahrlässigkeit um ihre Wirkung und ihre Schönheit gebracht wird. Auch Verdi braucht Sorgfalt. Und bisweilen eine Intensität wie Brahms, aber eben ohne jede Knalligkeit. Ich hasse beispielsweise diese Engländer, wenn sie einem immer mit ihrer Italienità ankommen, das sind doch nur schlechte Klischees.“
Er sieht sich als steter Rufer in der Wüste. „Denkt an Richard Tucker, den Ihr gestern im Toscanini-Video gesehen habt. Der musste nicht brüllen und der hatte noch eine Ahnung vom Geist des Belcanto der Kastraten, und ihrem langen Atem. Die waren übrigens alle auch umfassend am Cello, und am Bass ausgebildet. Wirkliche Musiker. Tucker konnte das mit schnellem Atmen ausgleichen, und so schön die Phrasen gestalten. Ich habe noch zweimal mit ihm in Florenz arbeiten dürfen. Damals war er alt und ich jung. Jetzt bin ich alt und er ist tot. Hoffentlich wird all dieses Wissen irgendwie weitergetragen werden.“
Dem Rigoletto Francesco Landolfi rät Muti mehrmals, deutlicher auf die Wortbedeutung zu achten: „Ich bin ein hässliches Produkt der Natur und der Menschen“, singt der, da dürfe man nicht mit einem auftrumpfenden Schlusston diesen Monolog beenden, der eben keine Arie sei. Das Orchester solle aber wie improvisiert die aufschäumende Melodie zu Gilda Auftritt spielen, „das ist nicht abgedroschen“. Es bräuchte die Kraft eines Ferraris, aber ganz zurückgenommen. „Bitte keine Noten buchstabieren und mehr entusiasmo! Ich höre hier immer Verdis Banda, so wie er sie als kleiner Junge gekannt hat. Diese Kapellen gibt es heute noch in Italien, die spielen vielleicht nicht schön, aber mit Leidenschaft. Und denkt an den Auftakt! Auf dem Atem, bitte. Beecham hat immer gesagt, der erste und der letzte Takt zählt, die merkt sich das Publikum. Geigen, habt ihr gehört, die Phrase bitte wie Vivaldi, dann aber mit mehr Spumante!“ Pause! Benissimo.
Riccardo Muti kann richtig breit grinsen, wenn ihm etwas gefällt oder wenn er einen guten Witz gemacht hat. So bleib die Stimmung im Saal trotz aller Intensität aufgelockert und im besten Sinnen konzentriert. Die Sänger halten sich zurück, drehen aber bisweilen auch auf, wollen zeigen, was sie können. Besonders in den großen Nummern des nun anstehenden zweiten Aktes. Muti drosselt oft, „singt das wie ein Schubert-Lied“, sagt er zum Tenor, der schönes Material hat, dessen Technik aber bisweilen ausfranst. „Und drück nicht so! Du willst noch ein paar Jahre durchhalten.“
Es geht zum Mittagessen auf die andere Parkseite. Koicho Suzuki der Chairman des Festivals wie von IIJ – Internet Initiative Japan – hat geladen. Es gibt Aal, das Restaurant wurde ausgesucht, weil er hier in einem Privatspeisezimmer rauchen darf. Was er ausführlich tut. Irgendwie sympathisch, der Mann! Und wie so oft in Japan: ein Wirtschaftsmensch, ein Herr der Zahlen, aber mit großer Liebe zur Musik. Das Tokyo Spring Festival ist seins, er hat es anfangs allein bezahlt, inzwischen gibt es einen großen Förderkreis von über 60 Firmen und mehr als 600 privaten Sponsoren: „Ich habe früher in Europa gelebt, auch eine Zeit in Karlsruhe, und natürlich komme ich, sooft ich kann, zu Festivals und Konzerten zurück. Zum Spring Festival hat mich der Prager Frühling in Tschechien inspiriert. Ich fand es toll, wie dort die ganze Stadt durch die Musik und die Jahreszeit förmlich aufblühte, wie viele partizipiert haben.“
Die neuerliche Kameraspende für die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker hat Suzuki san mit eingetütet, und auch sonst dreht er – diskret und lächelnd, sehr zurückhaltend, die Rädchen in Hintergrund. In Japan lieben und verehren sie die alten Männer: Deshalb stand am Anfang des Tokyo Spring Festivals natürlich wieder mal Seiji Ozawa, ohne den hierzulande immer (noch) kaum etwas geht; auch wenn er mit seinen 83 Jahren und der schwachen Gesundheit weitgehend symbolisch agiert. Er brachte freilich, damals war er ja auch Chefdirigent der Wiener Staatsoper, deren ehemaligen Intendanten Ioan Holaender beratend mit ins Frühlingsboot. Vor allem für die Wagner-Besetzungen war und ist der ewig Umtriebige zuständig, gerade wird er wieder samt Servus-TV-Team erwartet. Business und Fernsehshow, in Japan und bei den Privaten offenbar kein Widerspruch.
Wagner – natürlich. Auch so eine Suzuki-Liebe. Jedes Jahr gibt es inzwischen eine sehr gut, gern auch mit Altstars gecastete konzertante Aufführung mit dem NHK Orchester, die optisch mit Videos aufgehübscht wird. Holender macht das schon, meist im Verein mit dem hier sehr verehrten Marek Janowski. Für das letzte Jugendwerk, den „Fliegenden Holländer“, hat 2019 freilich ein hoffnungsvoller Junger an der Opernreling angeheuert – David Afkham. Und auch Katharina Wagner, um die sich Suzuki-San lange bemüht hat, war jetzt endlich auch mal als Professionelle da: zum Jubiläum hat sie drei Wochen lang mit japanischen Sängern den Bayreuther „Holländer“ für Kinder einstudiert. Der wurde mehrmals in einem Bankfoyer aufgeführt, wie überhaupt das Spring Festival gern die traditionellen Säle verlässt. Viele, gerne auch thematisch gebündelte Konzerte finden in den Museen und Hochschulen in und am Ueno Park statt, wo der Bunka Kaikan als Anlaufort fungiert. Auf dem Weg zum Essen sind wir auch an einer Freiluft-Session mit Saxophonen vorbeigekommen, umsonst und draußen; das Festival weist mit den rosa Westen der Musiker in der Hanami-Farbe auf sich hin. „Concerts in Harmony with Cerry Blossoms“, nennt sich das typisch japanisch.
Koicho Suzuki erzählt von der „Blechtrommel“ und wie er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg via Grammophon Schubert-Impromptus („mit Arthur Schnabel“) und Lieder für sich entdeckt hat. Eine Zeitlang wollte er Pianist werden, „aber zum Glück habe ich das gelassen.“ Dafür liebt er auch das Kino besonders. Riccardo Muti ist ebenso wie Zubin Mehta ein regelmäßiger Spring Festival-Gast, mit Bryn Terfel spielt er Golf. Zum 15. Geburtstag gibt es natürlich eine Sängergala unter Philippe Auguin mit Meagan Miller, Elisabeth Kulman, Peter Seiffert, John Lundgren und Ain Anger. Auch die Gurre-Lieder wuchtet man. Nachdem er mit Kirill Petrenko hierzulande einen so großen Erfolg hatte, tritt Igor Levit mit seinem bewährten Variationen-Programm (Bach, Beethoven, Rzewski) auf. Zum Orchestra Day bevölkerten 13 Tokioer Klangkörper den Bunka Kaikan. Man feierte Clara Schumanns 200. Geburtstag, stellt lokale und junge Musiker vor, mach viele Educationarbeit. Und alles – privat finanziert.
Wir müssen zurück, Riccardo Muti, der Unermüdliche, ist schon wieder am „Rigoletto“-Proben. Ein guter Lauf, der dritte Akt geht fast ohne Unterbrechungen zu Ende. Bis morgen, zur Generale! Später lädt er großzügig in kleinem Kreis zum Essen ein, natürlich Italienisch, Sabbatini di Firenze hat einen Ableger im Ginza Viertel. Und ich stelle wieder fest: Er liebt am Abend Mozarella, Pomodoro, Prosciutto, Pasta und Spumante, sehr einfach. Und er nimmt natürlich kein Blatt vor den gespitzten Mund.
Ein altes Thema zwischen uns: die Akustik in der Elbphilharmonie. Riccardo Muti, hier sei es nochmal gesagt, mag sie nicht, findet sie mittelmäßig. Dabei war er doch dort als erster, allseits gelobter Gaststar beim Eröffnungswochenende. Neulich habe ich das publik gemacht. Und schon klingelte deren Chef Christoph Lieben-Seutter bei Muti Sturm. Er möge das widerrufen, wie könne er! Eine sehr heikle Sache, da werden die Hamburger dünnhäutig. Lieben-Seutter will sogar nach Ravenna kommen, sich mit ihm austauschen, ihn umstimmen. Nichts für den sturen, prinzipientreuen Muti. „Ich sage es hier und jetzt nochmal – ein mittelmäßiger Saal! Und mehr noch: Ich trete darin nicht mehr auf, gerade habe ich ihn für geplante Tourneen mit den Wiener Philharmonikern wie mit dem Chicago Symphony Orchestra aus der Reiseliste streichen lassen! Dort vergeude ich nicht meine Zeit.“ Basta – und jetzt Pasta. Penne Aarrabiata, besonders scharf…
Der Beitrag Tokyo Spring Festival II: Rauchen beim Aalessen und wieder mal – die Akustik der Elbphilharmonie erschien zuerst auf Brugs Klassiker.