Nach so viel Verdi ist mal wieder Wagner gut für die Ohren. Und er passt auch, will sich das Tokyo Spring Festival, vokal beraten vom nicht nur alle sieben Jahr durch die Opernmeere schippernden Ioan Holender, durchaus als eine Art Kirschblüten-Bayreuth etablieren. Das Unwetter kracht, der Seesturm tobt. Nach dem „Rigoletto“ ist also vor dem „Fliegenden Holländer“, der heute ansteht. Der Bunka Kaikan ist nicht ganz ausverkauft, dabei ist die Besetzung wohlgeraten, und viel billiger sind die Karten zudem. Liegt es am Dirigenten? Richtig, David Afkham hat noch nicht den ganz großen Namen, er ist ja noch jung (36), aber er bewährt sich glänzend, wie immer hier mit dem NHK Symphony Orchestra am Start. Da jaulen die Hörner, es sirren die hohlen Streicherquinten im Tremolo-Diskant, dumpfe Trommelwirbel, schneidendes Blech. Und schon zur Ouvertüre gibt es über Orchester und Chor auch ein brav montiertes Video, das mit sich drehenden Wolkennebeln und ein wenig Meer Atmosphäre verbreiten soll. Ein Segelschiff in voller Fahrt wird von oben anvisiert. Im feinsten Dolce, dabei straff gespannt, blüht das Senta-Motiv auf, keusch und zart führen es Hörner, dann Klarinette, Oboe und Flöte fort. Auch in die rustikalen Matrosentänze schmeißt sich David Afkham mit Spielopernfuror. Dämonie und Lebensfreude – Theatertemperament, nimm deinen Lauf.
Diese immer wieder faszinierend plakative, melodieselige, dabei meisterlich knapp erzählende Ouvertüre, mit dem Ex-Wiener-Philharmoniker Rainer Küchl als Gastkonzertmeister, sie ist eine schöne Vorgabe für das, was kommt. Das Orchester wird zum Haupthandelnden, famos präpariert, mal zusammengestaucht, mal sich dehnen dürfend, nimmermüde. Sichtbar dann weitergeführt von Thomas Langs und Shigeki Miyamatsus Chorkollektiv der Tokyo Opera Singers, schlank, aber mit Wucht auftrumpfend. Und sehr textdeutlich.
Daland musste als Einspringer rasch eingeflogen werden, doch der junge Däne Jens-Erik Aasbø macht das fein, herrlich bassspießig und verschlagen gemütvoll. Seine beiden in Frage kommenden Schwiegersöhne in Spe sind beide die jüngsten nicht mehr. Im Rentenalter ist längst Peter Seiffert, der hier unverhofft nochmals als Erik auftaucht, aber er macht seine Jägersache sehr verlierertenorgut, zeigt formidable Technik in der von vielen ungeliebten Zwischenfachrolle, setzt passgenau seine meist Forte genommenen und gehaltenen Höhen.
Den Holländer gibt der gegenwärtig immer noch Beste – Bryn Terfel. Der hat drauf, was er auch darstellerisch machen muss, fesselt mit seinem Nuancenreichtum und dem gepflegt knarzigen Timbre. Er besitzt sehr gute Bariton-Spitzen, dagegen einen eng mensurierten Bass-Bereich. Eine der am meisten gefürchteten Wagner-Partien singt er freilich klug disponiert, punktgenau aufs Ganze setzend mit der vollen Potenz seiner Persönlichkeit.
Ricarda Merbeth, passenderweise mit einer Art grauen Edelstricklangjacke zur schwarzen Robe, ist zwar auch kein Senta-Kind mehr, aber sie weiß, weiß sie singt. Und auch wenn bei der Ballade das Timbre noch virbratoflackert, sie stößt immer selbstsicherer an Soprangrenzen, ist ganz kontrollierte, gestalterisch souveräne Senta-Glut. Ein spätes Mädchen, nicht unsympathisch in seiner Unbedingtheit.
Nur Gesang, und sei er noch so lauter, aufrecht und anrührend, kann ihre Szene mit dem Holländer nicht retten und klären, in der sich entscheiden muss, was diese beiden Suchenden und schon Verlorenen anzieht und was sie bereits aneinander vorbeigleiten lässt: das Mädchen, das ein Bild liebt (als Schöner-Wohnen-Edelinterieur hinten sichtbar) und sich hier einen Märchenhelden baut, und der verfluchte Mann, der sucht und niemals finden wird, ewig ein Ausgestoßener, trotz seiner Schätze, dem Terfel so klar und eindeutig Kontur gibt. Am Ende zieht er die Merbeth wie ein feuchter Erlkönig mit sich aus dem Saal.
Ordentlich auch der Steuermann von Cosmin Ifrim mit klarer, aber bisweilen quetschiger Tenoremphase. Nur die Frau Mary der gar nicht gouvernantenhaft klingenden Aura Twarowska hat sich im Konzertoutfit vergriffen. Schulter- und ärmelfrei, aber mit viel floreal getufftem Getülle vor dem üppigen Busen, sieht sie in flaschengrüner Seide aus wie eine Sumpfnelke. Prächtig tönt bis zum keusch verklingenden Finale mit Videolichtstrahl von oben Daniel Afkham. Schlank und tragfähig ist sein Orchesterklang, biegsam, elegant, weil die rohe Wucht dieser Musik draußen bleibt. Intelligent, sicher und reduziert setzt er Akzente, weiß um Töne des dunklen Abgrunds, verlangsamt den Fluss geschickt, hat auch Sinn für den grellen Singspielhumor dieser Seefahrer-Ballade im fernen Tokio. Da fahre ich doch sehr beschwingt nach Europa zurück.
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