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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Traumatisierter Kriegsheimkehrer: In Händels „Orlando“ im Theater an der Wien drehen eigentlich alle durch

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Hurra, die Bushaltestelle der Verlorenen, die sich in der Salzburger, inzwischen nach Berlin abgewanderten „Don Giovanni“-Inszenierung von Claus Guth drehte, sie ist wieder da. Diesmal freilich steht sie nicht im spanischen Wald, sondern im Theater an der Wien. Ihr Dach ist nicht aus Blech, sondern aus gebogenem Beton. Daneben prangt ein vergilbtes Plakat mit einem Strand und einer Bierflasche: „That’s Life!“, so macht es falsche Werbehoffnung. Hierin flüchten die, welche es in dem heruntergekommenen Bruitismus-Bungalow dahinter nicht mehr aushalten. Der steht zwischen Palmen und tropischer Vegetation, wohl irgendwo in Südamerika. Und auch sonst dünkt in dieser Guth/Christian Schmidt-Zurichtung von Georg Friedrich Händels schon später, dunkler, ausgezehrter Oper „Orlando“ nach dem „Rasenden Roland“-Epos des Ariost so einiges bekannt: die bipolaren, eher unsympathischen Charaktere; ihre Wahnvorstellungen in Gestalt von Figuren mit Tier-, konkret: Hundeköpfen; die Drehbühne als urban geschlossener Raum; die Düsternis und das Stehende Jetzt, der auf sich selbst zurückgeworfenen Figuren. Doch das Schema ist gekonnt ausgeführt und erfüllt. Und es gibt, neben einem passgenau besetzten Fünfer-Ensemble, einen seltenen Gast im Musiktheatergraben: den herrlich mit Tempi und Stimmungen abwechslungsvoll spielenden Giovanni Antonini samt seiner füllig wie fein intonierende Alte-Musik-Truppe Il Giardino Armonico. Da blüht zumindest akustisch der Händel-Garten in allen Farben.

Fotos: Monika Rittershaus

Gleich drei, ganz am Anfang und in der schon späten Londoner-Opernperiode Händels ab 1733 herausgekommene, mit magischen Elementen arbeitende Werke hat das Theater an der Wien diese Saison auf dem Premierenprogramm. Das nennt man Bühnenpädagogik der cleveren Art. Nach einer missmutig geratenen „Alcina“ und einem musikdramaturgisch spannenden „Teseo“ schließt diese Trilogie nun mit „Orlando“ ab. Wobei es hier natürlich keine Drachen, chinesische und afrikanische Royals und auch keine Schäferin zu sehen gibt.

Der Kriegsveteran Roland sitzt im schmuddeligen Sessel und stiert mit leerem Blick auf ein an die Wand projiziertes Killerspiel. Doch statt der grundbösen Feinde ist er nur mit einem ebenfalls in der Ecke dämmernden Kumpel und einem seltsamen Anwalt konfrontiert, der ihm seine abgelegte Knarre in die Hand drückt, um ihn wieder zur Tötungsmaschine zu aktivieren. Funktioniert aber nicht. Ist Roland doch längst nicht mehr auf dem Schlachtfeld, gehört ins Sanatorium. Sein Krankenbild sieht nicht gut aus: Posttraumatische Störung, emotional bedingte Schizophrenie. Nicht einmal die obsessiv an die Wand gepinnten Fotos seiner Geliebten Angelica können sein verdunkeltes Gemüt aufhellen.

Der komische Kumpel, der ihn in seiner leergeräumten, verlotterten Absteige aufrichten will, ist allerdings eine ebenso seltsam doppeldeutige Person. Denn eben noch torkelte er als Bierdosen knackender Penner in Trainingshosen im Erdgeschoss durch die Garage, wo ein schwarzer Wagen vergeblich wartet. Auch dieser rülpsende, pissende, gröhlende Zorastre, ein Magier, der nichts mehr zusammenzaubert, hat einen Sprung in der Barock-Schüssel. Und genauso ungebändigt, die Noten heftig attackierend, wuchtet ihn der pralle Florian Boesch mit kernigem Bassbariton auf die Bühne.

Doch Christophe Dumaux als Orlando hält sich auch nicht lange lethargisch zurück. Seine Lebenskräfte werden wieder angestachelt durch Angelica, die diesen ausgebrannten Kerl offenbar über hat und was mit dem Automechaniker Medoro beginnt. Was Roland zum Rasenden werden lässt. Seine Weltsicht trübt sich neuerlich ein, als Orlando furioso mutiert  er zur Liebeskampfmaschine, schmiert sich voll, haut gegen Wände, springt aus dem Zimmer, kämpft gegen Furien und Dämonen. Händel hatte die Rolle einst für seinen (sich unterfordert fühlenden!) Lieblingskastraten Senesino als mehrteilig ariose Tour de Force komponiert, wild und ungestüm, dann wieder leise klagend. Wusste er doch: Wer außer sich ist, der achtet nicht auf Gattungsgesetze, Mode und Konvention. Die Wahnsinnsarie ist deshalb in der Oper stets  ein Abenteuerspielplatz der Avantgarde, ein Experimentierfeld des Extremen. Eine Klaviatur der Emotionen wird so im „Orlando“ virtuos, behend und innovativ bedient, und Dumaux zieht mutig alle dramatischen Register, schmachtet, wütet, barmt und heult – ohne vokale Verluste.

Die anderen halten sich ebenso wenig zurück: Angelica ist eine gruftig schwarze Bitch, Anna Prohaska haut sie auch so auf die Stufen wie Stockwerke; wenngleich ihr zarter Sopran gerne die Töne von untern anschleift, ins Gurgeln kommt; Wahrhaftigkeit und unmittelbare Bühnenintensität steht über Singen aus dem Fiorituren-Lehrbuch. Medoro, auf den sie ein Auge geworfen hat, ist der zweite Countertenor. Raffaele Pe gibt ihm mit schön anschwellender Legatokultur und sattem Timbre. Als klangliche Kletterkindfrau präsentiert sich die bewegliche Giulia Semenzato. Die ist Dorinda und hat vor dem Bungalow einen Imbisswagon, wo sie als sexy Schneewittchen hinter dem Tresen steht. Ein eher gemischtes, nicht wirklich vertrauenswürdiges Personal.

Das wird von Händel, ohne viel Umwege durch eine klare Liebeshandlung geführt, mit knappen Rezitativen und wenig prunkenden, immer im packenden Dienst der Handlung stehend. Bei Guth kommt das, trotz sich wieder mal sparsam drehendem Ambiente, eher statisch daher, doch dekliniert er den Sturm der Befindlichkeiten psychologisch feinfühlig durch. Alle haben sie so ihre Ups and Downs und wenn am Ende Orlando großmütig Medoro Alcina überlässt, dann weiß man nicht, ob desser Frieden nicht ein tückisch trügerischer ist.

Ein bewährtes Team hat einmal mehr seine barocke Repertoireschiene variiert. Warum nicht? Hier passt es beinahe immer passgenau – ohne zur Masche zu werden. So wie ja auch Händel bei sich selbst borgte, adaptierte, seine Opern mit ihren hunderten Arien als genial genutzten Baukasten aus meist mit einem Twist neu zusammengefügten Versatzstücken benutzte. Aber bei ihm hebt es zumindest musikalisch stetig aufregend neu ab. Und so wie Giovanni Antonini höchst beweglich, klangscharf, aber auch mit größtmöglicher Finesse diese reiche Händelpartitur gestaltet, reliefartig gliedert, ihre Hochs und Tiefs mit Schwung wie Delikatesse toll bewältigt. Und sie bisweilen auch fast zum Stillstand bringt. Allein schon für den buntschillernden Instrumentalpart hatte sich dieser schwarze und trotzdem spannende Depressionsabend gelohnt.

Der Beitrag Traumatisierter Kriegsheimkehrer: In Händels „Orlando“ im Theater an der Wien drehen eigentlich alle durch erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


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