Gründonnerstag war es ruhig in Bogotá, Karfreitag geht es schon wieder belebter zu, zumindest im Zentrum. Lange Schlangen, lärmige Händler inklusive, an der Zahnradbahn. Und vergleichsweise wenige Leute auf der Placa Bolivar, wo jetzt eine Prozession startet. Manche Gläubige knien, manche scheinen es aber als ein weiteres Volksfest zu begreifen. Um den Platz verteilt stehen Polizisten in Galauniform mit einer Art von preußischen Pickelhauben. Sie halten jeweils Bilder der einzelnen Kreuzwegstationen hoch, an denen bald der Bischof vorbeiziehen wird, der gegenwärtig noch vor der Kathedrale zwischen blutigen und ehrfürchtigen Heilgenstatuen zelebriert. Hier ist offenbar Kirche und Staat noch sehr eng verwoben. Eigentlich wollten wir Früchte probieren, aber der Markt hat geschlossen. Also geht es stattdessen ins Museo Santa Clara, ein ehemaliger Nonnenkonvent und die prächtigste Kirche der Stadt. Wir sind im sagenhaften Eldorado, und ist auch hier die Altarwand goldüberkrustet. Viele Bilder warten auf Anbetung, unter den Statuen stehen farbenfrohe Keramiktöpfchen, in denen offenbar Opfergaben gebracht wurden. Verborgen Türen führen zu schmalen Beichtnischen, hinter der Wand ist ein Gang, von wo aus die Nonnen auf ihre Plätze huschen konnten.
Mitten in einer belebten Gasse nicht weit, Straßenhändler verkaufen lautstark Fruchtsaft, Irgendwelche Kokosgelees, frittierte Kochbananen und Kartoffelchips, liegt das historische Teatro Colón. Golden und samtrot glänzt es. 2010 wurde es renoviert, Blumensträuße stehen im neoklassizistischen Foyer. Der Italiener Pietro Cantini hat es entworfen und 1892 wurde es anlässlich des 400. Jahrestages der Entdeckung Amerikas mit Verdis „Ernani“ eingeweiht. Die 700 Plätze sind selbst am Karfreitagmorgen ganz gut gefüllt, wenn hier ein österreichisches Trio Schubert spielt. Noch dazu das traumverlorene Notturno b-moll D897. Angeblich soll Schubert für das erste Thema eine Liedmelodie der Rammpfahlarbeiter aus Gmunden verwendet haben. Und die wird nun bis nach Kolumbien getragen…
Es schließen sich Clara Schumanns Klaviertrio und das davon inspirierte erste Trio d-moll ihres Gatten Robert an. Wunderbar getragen, intensiv, gespannt erklingen diese deutschen Klänge, gespielt vom Trio Alba. Hier wird zwischen den Sätzen geklatscht, nach der Pause erfolgt die entsprechende Ansage. Mit dem Hinweis, dass auf der letzten Seite des Programmbuchs (die sind kostenlos und es gibt drei: für den Großen wie Kleinen Saal im Teatro Mayor und für die Zentrumskonzerte) Platz ist für Autogramme der jeweiligen Lieblingskünstler.
Zeit, ein wenig abzuschweifen, über Bogotá und die Deutschen nachzudenken. Wobei wir jetzt mal das angebliche CIA-Foto vergessen wollen, das Hitler 1955 in Kolumbien zeigt. Die ozeanübergreifenden Kontakte sind meist gar nicht braun und schon viel älter. Bogotá wurde formell und juristisch im April 1539 gegründet – von dem spanischen Conquistador Sebastián de Belalcázar und dem Ulmer Hauptmann und Handelsagent Nikolaus Federmann, der im Dienst der Augsburger Welser stand und El Dorado suchte. Vorher war er Statthalter über Klein-Venedig (Venezuela) gewesen. Seit 1968 ist nach Federmann ein Sektor des Stadtbezirks Teusaquillo benannt, auch ein Park und eine Klinik tragen seinen Namen. Und im Nationalmuseum liegt mitten in einem Gang die Grabplatte des Arnsbergers Justus Wolfram Schuttelius (1892-1941), der als Pionier der kolumbianischen Archäologie hochverehrt wird.
Seit sich in Südamerika die Dinge in Brasilien und Venezuela verschlechtern, sind die Kolumbianer, die vorerst in ihrem Land mit den Drogen und der Korruption zumindest großflächig aufgeräumt haben, für die Deutschen wichtigere Partner geworden. Nicht nur der Kaffeehandel und auch der Tourismus florieren (9 Prozent Zuwachs im letzten Jahr), man arbeitet besonders beim Klima- Und Regenwaldschutz enger zusammen.
Unübersehbar scheint aber vor allem auch die kolumbianische Vorliebe für deutsches Essen. Da gibt es Buden mit deutscher Wurst am Straßenrand, auch ein Oktoberfest findet statt. Die Speisekarten haben immer wieder Sopa Germana (mit Linsen und Kartoffeln) und Chorizo Aleman auf der Liste. Doch das wichtigste deutsche Kulturgut im Land heißt – Bavaria. Und ist natürlich eine Brauerei und frühere Biermarke. Das im Jahr 1889 von dem Offenbacher Leo S. Kopp (hier liebevoll „Don Leo“ genannt) gegründete Unternehmen (der erste Firmensitz gegenüber dem Nationalmuseum beherbergt aktuell eine posche Galerie) ist heute mit einer Produktion von 331 Millionen Hektolitern der größte Bierhersteller Kolumbiens sowie der zweitgrößte Südamerikas. Bavaria S.A. gehört seit 2005 zum Biergiganten SABMiller, einem Tochterunternehmen von Anheuser-Busch. Die Firma beschäftigt über 16.000 Mitarbeiter und hat Produktionsanlagen in allen größeren Städten Kolumbiens sowie in Ecuador, Peru und Panama.
Dass die an Chicha (Maisschnaps) und Guarapo (gegorener Zuckerrohrsaft) gewöhnten Kolumbianer nachhaltig zum Biertrinken bekehrt wurden, gereichte später einer gewissen Familie Santo Domingo zum Wohle, eine Erfolgsgeschichte, wie sie die Weltwirtschaft nur selten kennt. Durch die Enteignung der Familie Kopp im Zuge der Kriegserklärung Kolumbiens an das Deutsche Reich, kam Julio Mario Santo Domingo später in Besitz von 75 Prozent des Aktienpaketes. Und dank ökonomisch weiser Winkelzüge, Zukäufe und Fusionen wurde man zur reichsten Familie Kolumbiens. Bavaria ist heute für 98 % des kolumbianische Bierausstoßes verantwortlich. Und als die Santo Domingos 2005 verkauften, sollen sie ihr Vermögen um 7,8 Milliarden Dollar auf 15 Milliarden aufgestockt haben.
Einen icht unbedeutenden Teil davon besitzt übrigens Tatjana, das in Europa bekannteste Mitglied der Santo Domingos: die heute 35-Jährige heiratete 2013 in die monegassische Fürstenfamilie ein, indem sie Andrea Casiraghi, den ältesten Sohn von Prinzessin Caroline ehelichte. Dreifache Mutter ist sie inzwischen.
Warum so viel Bier- und Bunte-Geschichten, wo es hier doch um ein Musikfestival geht? Weil das Teatro Major, der Hauptspielort des Festival International de Música Clásica, vor neun Jahren von der Stiftung der Santo-Domingo-Familie der Stadt geschenkt wurde, benannt ist es im Untertitel nach Tatjanas Großvater, dem 2011 gestorbenen Julio Mario Santo Domingo, der die entscheidenden pekuniären Grundlagen gelegt hatte. Teutonisches, Bier und kolumbianisches Geld als harmonischer Kultur-Akkord. Und jetzt also ganz viel deutsche Musik. Umso seltsamer, dass weder der deutsche Botschafter noch das Goethe Institut Präsenz zeigen. Kein Grußwort, kein Empfang, kein Konzertbesuch…
Und dort, im Teatro Mayor, Sala Mayor, sind wir jetzt auch wieder, es geht weiter mit deutscher Romantik. Der vokalen Eigenart. Die ist nämlich ein weiterer Schwerpunkt von „Bogotá ist Brahms, Schubert, Schumann“ wie die vierte Festivalausgabe heißt. Fälschlicherweise als Sängergala angekündigt geht vielmehr als Verdauungsbeschleunigung frühmittäglich eine Schubertiade vonstatten, ein Sängertreffen, das sich in Duos, Trios und Quartetten von allen drei Komponisten verlustiert. Seltenst ist solches stimmliche Zwiegespräch nur noch in deutschen Landen anzutreffen, denn den meisten Veranstaltern reicht schon ein Liedsänger. Hier waren es derer gute vier: die akzentfreie Spanierin Elena Copons, der Mezzo Iris Vermillion, Tenor Christoph Prégardien und Bariton Günter Haumer. Der gute Klaviergeist – natürlich Roger Vignoles.
Das Publikum, das wie stets hier in der letzten Minute den zunächst leer anmutenden Saal füllt, hat seinen Spaß und war gerührt von den fein verschmelzenden Sangesorgangen. Zumal alle vier die Texte, die über der Bühne mitliefen, genüsslich zu servieren wussten. Ob Schumanns sonnig-selige Rückert-Vertonung „Ich bin dein Baum: o Gärtner, dessen Treue Mich hält in Liebespfleg‘ und süßer Zucht“, das terzmelancholische „Wenn ich ein Vöglein wär“, Schuberts fast als szenischer Sketch samt stumm grimassierender Vermillion dargebotener „Hochzeitsbraten“, Brahms’ schwelgersche „Schwestern“ oder die ersten 18 der Liebesliederwalzer als Quartett, man erfreute sich an diesem raren Repertoire, Ausführende wie Zuhörende.
Die Abendkonzerte sind hier immer gewichtig Orchestrales. Den Auftakt am zweiten Festivaltag, die Halbzeit ist schon vorbei, machen wieder die Dresdner. Das Festspielorchester erweist sich als der mit Abstand beste der hier auftretenden Klangkörper. Und unter Johannes Klumpp legen sie nochmal einen Zahn zu. Romantisch schwelgt, aber klar abgezirkelt stukturiert ist Brahms’ Tragische Ouvertüre. Zum Schumann-Cellokonzert gesellt sich dann Jan Vogler, der Dresdner Festivalchef und Hans-Dampf-in-allen-Gastiergassen, dazu. Sein eher elegisch-verschleierter Ton bietet einen starken Kontrast zum hellen, kurz angebundenen, temperamentknalligen Spiel des Orchesters. Auch spielt er mit allzu wenig Atem und freiem Rhythmus. Eine arg metronomische Angelegenheit.
Klumpp aber nutzt dann für Schuberts Unvollendete gerade die klaren, offenen, hellen Spielqualitäten des Orchesters für eine sorgsam austarierte, trotzdem ungezwungen dramatisierte Version der zwei so unterschiedlichen visionär-melodieseligen Sätze. Eine tolle, hervorragend gespielte Leistung – leider geschmälert durch die zirkushaft zerrissene Zugabe von Brahms’ Ungarischem Tanz Nr. 6. Sogar mit Stampfeinlage und Hüftwacklern wie beim alten Lennie B. Ob der gute Mann morgen dann gar wohl beim Deutschen Requiem zum Festivalfinale etwa noch den Radetzky-Marsch drauflegt?
Den Abschluss eines langen Konzerttages bildet Stephen Hough mit dem 1. Brahms-Klavierkonzert. Der Brite spielt den Brummer ungerührt, elastisch, sachlich, brillant. Eine Wohltat nach so vielen oft dickwattigen Annäherungen der Kollegen. Nur leider verharrt die Philharmonie Konstanz unter dem gemütlichen Finnen Ari Rasilainen bei einem arg romantisch weichen Brahms. Das passte nicht wirklich zusammen. Auch in Bogotá, so nahe an den Sternen, ist nicht alles eine Sternstunde.
Der Beitrag Bogota Música Clásica Festival II: Preziosen in der Kirche, Präzision im Teatro Cólon. Und eine Stampfeinlage erschien zuerst auf Brugs Klassiker.