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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Bogota Festival Música Clásica III: Ekstase im Dorf, Enthusiasmus im Konzertsaal

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Dritter und letzter Tag beim Festival Internacional Música Clásica de Bogotá. Ermüdungserscheinungen? Eigentlich nicht. Bei Brahms, Schubert und den Schumanns (bei Clara allzumal) gibt es auch jenseits der hier beinahe komplett aufgeführten Sinfonien und Konzerte eine Überfülle zu entdecken. Ich bedauere eher, dass für die Kammermusik, gerade auch in ausgefalleneren Formationen, für Chorwerke und Lieder in diversen Besetzungen wenig Zeit bleibt. Wann hat man schon mal die Gelegenheit, drei Werkkataloge in einer solchen Fülle ohne Ablenkung und Anrechnung durch andere Handschriften (außer gelegentlich in den Zugaben) live mit durchzudeklinieren? Auch wenn die Konzerte zwischen einer und zwei Stunden lang sind, undurchsichtigerweise mal mit, mal ohne Pause, man schafft sowieso nicht alle. Zu nahe liegen die 50 Termine an drei Tagen zusammen, zu weit sind die Entfernungen zwischen den immerhin 15 Spielstätten in der immerhin über die Ostertage einigermaßen verkehrsflüssigen Mammutmetropole. Und zu begrenzt ist die menschliche Aufnahmefähigkeit. Spätestens nach dem sechsten Konzert an einem Tag ist Schluss. Und trotzdem sind alle entspannt, freudig am werkeln, die Organisation mit hunderten von Musikern klappt reibungslos; auch wenn nicht jeder den Konzertsaal vor dem eigentlichen Ereignis zu sehen und zu hören bekommt.

Heute geht es frühmorgens, der Wetterradar ist inzwischen auf Platzregen mit wenigen sonnigen, dafür schwülen Abschnitten eingestellt, wieder in die Innenstadt; aber zu einer anderen Spielstätte: Teatro Colsubsidio Roberto Arias Pérez. Das gehört einem Dienstleistungskonzert namens Colsubsidio, der hier einen ganzen Block bebaut hat, Supermarkt und Bürohäuser inklusive. Von außen wirkt es, wie so vieles hier, etwas schäbig und ungepflegt, doch das unauffällig eingebundene Theater erweist sich als elegant und stylish. 1981 eröffnet, hat es zwei Ränge mit kojenartigen Logen, eine breitgezogene Bühne, Foyers mit witzigen Lüstern, Spiegeln und kinetischer Kunst – jede Modeproduktion würde ein solches Ambiente adeln.

Hier gilt ebenfalls: Alle kommen in letzter Sekunde, man ist aufmerksam gespannt, aber oft hat man vergessen, das Handy auszuschalten. Nach der Pause klingelt es gleich zweimal, ortsüblich schrill, der subtile Tremolo-Beginn von Schuberts 15. Streichquartett muss dreimal wiederholt werden. Doch das Mandelring Quartett, das jetzt als puristischer Vierer auftritt, steckt das lächelnd weg.

Vorher freilich hat man sich nicht nur vor wechselnden Hintergrundprojektionen (Milchstraße, Wolkenhimmel, unscharfe Straßenschluchten) eingefunden, sondern auch in wechselnden Ergänzungen: Zum zweiten Streichquintett von Brahms gesellte sich Laurent Marfaing, der Bratscher des Quattro Modigliani. Zu Schumanns Klavierquartett fand sich der hier lebende und seit seiner Gründung 2003 fest beim Orquesta Sinfónica de Colombia spielende Russe Sergei Sichkov am Flügel ein. So gelingen konzentrierte, dichte, immer glasklar die Strukturen der jeweiligen Werke offenlegende Interpretationen.

Das war so intensiv, dass das eigentlich hinterher angepeilte Konzert mit Iris Vermillion, „Frauenliebe und Leben“, Clara-Schumann-Liedern und Brieflesungen leider nicht zu schaffen war. Aber auch der Food Court im nachbarlichen Supermarkt am Theater („Super“ ist hier wörtlich zu verstehen) bietet schnelle, schmackige Abwechslung zu dem dann doch schnell faden, weil überschaubaren Angebot an den Foyer-Ständen. Weiter geht es durch den Regen nach Suba, in ein ehemaliges Dorf auf einem Hügel, das längst von der gefräßig urbanen Fülle Bogotás umspült wurde.

Vor der Iglesia de Inmaculada Conceptión drängeln sich die Menschen, Kinder, Alte, Behinderte, alles dabei, nur freudestrahlende Gesichter. Gleich singt der WebernKammerchor der Wiener Musikuniversität gratis Chorsätze aller Festival-Komponisten. Die Tür bleibt offen, damit auch die noch draußen Drängelnden zuhören können, viele stehen, Hunde bellen, Autos hupen, Baby glucksen, Handys klingeln. Stört alles nicht, die Leute lauschen, atmen mit, klatschen sich nach jedem Block immer mehr Ekstase.

„Waldesnacht, du wunderkühle“, intoniert der feinbalancierte Chor glasklar Brahms vor der goldenen Altarwand, wo vorher noch schnell der Tabernakel geschlossen wurde. Es haucht sich aus mit Mozarts „Ave verum“ und als zweiter Zugabe einem kolumbianischen Wiegenlied, das den Beifall fast durch die Decke treibt.

So bleibt Zeit, die uniforme Chorkleidung zu studieren, immer ein großes Thema. Leiter Alois Glassner trägt eine rote Krawatte, bei den Männern spitzen rote Einstecktücher aus den Sakkos. Nur die Damen machen Freestyle mit ihren roten Blumen – im Haar, am Busen, am Revers, am Gürtel, mal operettig mit Pailletten und Federn, mal puristisch; eine hat sie gar durch rote Ohrringe ersetzt.

Wieder im Teatro Major ein letztes Mal. Das Reich von Ramiro Osorio Fonseca, der Chef des Theaters wie des Festivals. Der silberhaarige, feingliedrige Mann ist in Kolumbien so etwas wie ein Meister aller Kulturklassen. Er war in den Neunzigern ein Jahr Kultusminister, hat das Amt quasi als Architekt überhaupt erst eingerichtet. Außerdem wirkte er als Direktor des Iberoamerikanischen Theaterfestivals und als Generaldirektor des ARTeria-Projekts. Er war Berater der UNESCO und leitete sowohl das mexikanische Festival Cervantino de Guanajuato von 2001 bis 2006 wie 2005/06 das Festival de Sevilla Entre Culturas. Er kümmerte sich am in Madrid ansässigen iberoamerikanischen Generalsekretariats um die Kultur und war auch in den Neunzigern Botschafter. Er war 1994 in Mexiko. Seit neun Jahren schließlich ist er Direktor des Teatro Mayor sowie des seit seit 2013 abwechselnd mit einem Theaterfestival abgehaltenen Festival Internacional Música Clásica de Bogotá.

Das wollte die Stadt unbedingt haben, nachdem man 2012 von der Unesco zur City of Music erklärt wurde. Sieht die Stadt doch Musik als Motor für soziales, kulturelles und auch wirtschaftliche Entwicklung. 8 Millionen Einwohner, zu denen auch 68 indigene Gruppen gehören, vereint in der Musik, vor allem in den populären „Festivales Al Parque“, die es für Rock. Pop, Salsa, Folklore und Oper gibt. Das Programm startete 1995, mehr als 600.000 Besucher verzeichnen die inzwischen mehr als 60 Festivals an 400 Spielstätten. Nur ein großes Klassikfestival, das fehlte noch.

Der wachsende Ruf des Festival Internacional Música Clásica de Bogotá scheint sich in der ziemlich kleinen Musikerwelt herumzusprechen. Yalilé Cardona, die einige Künstler auch über die eigene Agentur gecastet hat, erzählt, wie einfach es war, für Kolumbien zu begeistern. Und beinahe alle sind sie extra gekommen, Jan Vogler gastiert anschließend in Florida, das Philharmonische Orchester Antwerpen tourt weiter nach Brasilien. Und die lokalen Musiker können sich konzentriert inspirieren lassen.

Jetzt ist aber der Geiger Johannes Fleischmann dran, der sich vor allem der Kammermusik widmet. Im Studio spielt er, wieder ist Sergei Sichkov sein Klavierpartner, Romanzen von Clara Schumann, die FAE-Sonate von Schumann, dessen Schüler Albert Dietrich und Brahms, Schumanns Violinsonate und das Rondo brillante von Schubert – alle mit spröden, hartem Ton, Akkuratesse und gestalterischem Feingefühl.

Zum Festivalfinale – diesmal ist es legitim – wartet dann im großen Saal ein Requiem, das „Deutsche“ natürlich, von Johannes Brahms. Immerhin verhallt das versöhnlich: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an / Ja der Geist spricht, dass sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach.“ Vorher freilich hat es Johannes Klumpp am Pult des Dresdner Festspielorchester aber auch ganz schön, aber diszipliniert krachen lassen. Erstaunlich, was nicht einmal 30 Streicher doch für Lautstärke entfesseln können. Der Chor – einheimische Jugendliche und das Opernensemble – bringt viel Fantasie in der Diktion auf, klingt aber üppig und verinnerlicht zugleich. Nich sonderlich gut aber sind die spanischsprachigen Solisten, wabbelig der Bariton, zu unruhig der Sopran. Macht nix, der Saal jubelt erneut hell und lang, das Entzücken wie der Enthusiasmus sind übergroß.

Und wird nochmals lauter, als Fonseca und Cardona das Festspielthema für 2021 verkünden: Bogotá es barroco! Schon der Musiktrip zur deutschen Romantik in Kolumbien hat sich gelohnt.

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