Der Meister der kleinen Form. Das ist nicht unbedingt das Terrain, auf dem man Peter Tschaikowsky zu begegnen gewohnt ist. Der und sein Publikum mögen es lieber groß, gern laut, bitte gefühlsbetont. Was für ein Irrtum! Zeitlebens hat der Russe, dessen Überemotionalität nur schlechter und schlampiger Tradition entspringt, viele Miniaturen für das Klavier komponiert, meist zu Alben oder Zyklen gebündelt. Weil das gut verkäuflich war und weil es in einer Salonkultur, als man noch das heimische Musikmachen als geläufige Unterhaltung pflegte, einen großen Bedarf nach solchen, ein wenig parfümiert klingenden, aber feinsinnigen Kleinigkeiten gab. Und weil der scheinbar unerschöpfliche, vielleicht nur an Mozart heranreichende Melodiker, der er war, es hier einfach laufen lassen konnte, ein Hauptgedanke samt Gegenthema nur einfach fortzuspinnen und zu variieren war, ohne dass ihm die Puste ausgehen würde.
Es spricht wiederum für die bescheidene Größe dieser Frau, dass ausgerechnet Elena Bashkirova auf ihre jüngsten, seit langem wieder einmal Solo-CD nun zwei der vergleichsweise bekanntesten Tschaikowsky-Klavierzyklen angenommen hat: Die selbstredend zwölf Stücke der „Jahreszeiten“ Opus 37, entstanden (angeblich) in monatlicher Folge 1876 für eine Zeitschrift und dann erst komplett veröffentlicht, sowie das „Kinderalbum à la Schumann“ Opus 39 mit 24 Einzelstücken, das 1878 gefolgt war. Beide sind sie Musterbeispiele für den genau um Form und Fassung wissenden Lyriker, Stimmungsgestalter und unverwechselbar immer wieder neu die Miniatur zu füllen vermögenden Komponisten. Der sich immer wieder gern an seine Kindheit erinnerte.
Solches gilt es abwechslungsreich, mit leichtem, aber disziplinierten Anschlag zu spielen, aufmerksam achtend auf die feinen Valeurs und Schattierungen dieser gern ein wenig in den Dämmerschein sich melancholisch zurückziehenden Musik – die aber auch eine offensiv aufgekratzte, temperamentvoll tänzerische Seite hat. Elena Bashkirova wird dem mit untrüglich stilistischer Sicherheit gerecht, mit perlenden Läufen, akzentuierten Akkorden, einer genau dramaturgisch vorbereiteten Erzählweise; die doch immer wieder spontan wirkt, die Freude am eigenen Spiel und die Sympathie für diese Musik spüren lässt. Das Leichte wirkt hier nie leichtgewichtig, aber lässig und in Geberlaune serviert. Es bekommt besonders durch die flirrend singende Oberstimme eine liebevolle Aufmerksamkeit, die es sanft strahlen lässt, die den scheinbar so natürlichen Fluss nobilitiert und mit immer neu kolorierten Akzenten versieht.
Vollkommen gelingt auch die Balance zwischen den folkloristisch russischen Elementen, die dieser Musik ihre Bestimmung geben und den westlich geschulten Verarbeitungstechniken, in welchen sich Tschaikowsky als weltläufiger, eleganter, ja galanter Gestalter erweist. Diese knappen Stimmungsbilder lassen hören, wo sie her kommen und sie haben doch so gar nichts Provinzielles. Denn Elena Bashkirova fesselt hier mit einem trefflichen Zugang, der den intimen Charakter dieser Musik wahrt, ihn aber auch in einem großen Konzertsaal durch die Klarheit seiner Gestik glänzen lässt. Man folgt berührt und neugierig dem Verlauf dieser immer neu und anders ansetzenden Stücke, was ebenso für das noch kleiner, feiner, preziöser gearbeitete „Kinderalbum“ gilt, welches das Kunststück fertigbringt, Lehrstücke in klingende Poesie zu verwandeln, spielbar für Anfänger zu sein und dennoch den Könner gestalterisch zu kitzeln und zu fordern. Auch hier träumt man sich bei Hören weg, in einer ideale Kinder- und Klangidylle, die es so sicher nie gab, die der geniale Tonzauberer Peter Tschaikowsky hier aber bis hin zur noch einmal aus dem „Schwanensee“-Ballett wieder aufgenommenen Tarantella vollkommen zu beschwören weiß.
Und nicht nur Elena Bashkirova spielt das sehnsuchtsvoll und abgeklärt zugleich, es macht auch Spaß, in dem vorbildlichen Booklet zu stöbern, dass sich das kleine Plattenlabel des Tonmeister Gideon Boss im Verbund mit dem Deutschlandfunk geleistet hat. Himmelblau eingeschlagen, gibt es da liebevoll zusammengesuchtes Bildmaterial, die Original-Aphorismen großer Dichter zum „Jahreszeiten“-Zyklus und einen klugen Essay von Norbert Elly zu betrachten und zu lesen.
Ein anderer, weltberühmter Pianist hat sich just ebenfalls dieses immer noch unterschätzen Werkkreises angenommen: Lang Lang, dem auch Bashkirovas Ehemann Daniel Barenboim weitgehend vergeblich ein wenig mehr Gefühl und Sensibilität jenseits von Technikzauber und Geschwindigkeits-Klimbim vermitteln wollte. Der tastenflinke Chinese kombiniert Tschaikowsky mit den vier großflächig al fresco genommenen Chopin-Scherzi, in Paris unter Studiobedingungen aufgenommen und großzügig auf zwei glamourös mit gleich zehn Lang-Lang-Glanzfotos aufbereitete CDs verteilt. Die Bonus-DVD bringt zudem Ausschnitte aus dem auch separat erhältlichen, mitgefilmten Livekonzert im für Klaviermusik nicht eben geeigneten Spiegelsaal von Versailles. Die Triumphgalerie Ludwig XIV. macht aber viel her und sieht prächtig aus. Irgendwie spielt Lang Lang auch so: auf Effekt bedacht, an der Wärme und Herzlichkeit dieser Musik vorbei – und sie so im Innersten missverstehend.
Wer diese aber erfühlen und erfahren will, ist mit der so zarten wie kostbar wissenden Version Elena Bashkirovas bestens bedient.
Peter Tschaikowsky: Die Jahreszeiten; Kinderszenen. Elena Bashkirova (Gideon Boss Musikproduktion); Frédéric Chopin: Vier Scherzi; Peter Tschaikowsky: Die Jahreszeiten. Lang Lang (Sony Classical)
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