Ist nicht so schlimm. Am „Freischütz“ samt Jägerchor und Jungfernkranz, deutschem Wald und teutonischer Innigkeit, Dämonie und Kleinbürgergraus sind schon ganz andere Regiegroßmeister gescheitert. Und diesmal eben das siamesische Zwillingsduo Jossi Wieler und Sergio Morabito bei ihrer einzigen Regieneuarbeit der Saison – und seit Jahren mal wieder jenseits von Stuttgart. Nach Ende ihrer Intendanz hatte sie deren ehemalige Betriebsdirektorin Eva Kleinitz an ihrer neue Wirkungsstätte Opéra National du Rhin gebeten. Und auf dem Weg zu den Koproduzenten in Brüssel und Nürnberg kann bestimmt noch weiter daran geschliffen werden – auf dass sein Gewehrlauf weniger verbogen ist, die Freikugeln auch deutungsmäßig besser flutschen. Jetzt sah man eher eine Materialsammlung, irgendwo zwischen Blattschuss und Rohrkrepierer. Dabei macht Patrick Lange am Pult des gut aufgelegten Orchestre Symphonique de Mulhouse schon beim lauernd dräuenden Ouvertürenbeginn samt bedrohlich anwachsendem C und angenehmen Holzbläsermischungen deutlich, dass er seinen Weber Ernst nimmt ohne ihn zu dämonisieren oder kontrastiv zu überspannen.
Wir sind im Elsass, hier mag es ok sein, dass man den deutschen „Freischütz“ wählt. Freilich ist gerade auch Laurence Equilbey samt Insula Orchestra und Choeur Accentus mit dieser Version unterwegs. Dabei wäre, zuletzt geschah dies 2011 in Paris unter John Eliot Gardiner, durchaus mal wieder „Robin du Bois“ angesagt gewesen, wie das Werk hier verfälscht hieß. Denn wir haben Berlioz-Jahr, 150. Todestag. Und dieser hat 1841 für seine Pariser Fassung nicht nur die Wolfsschlucht in Gorge-aux-Loups umbenannt. Der böse Kaspar heißt Gaspard, das neckische Ännchen Annette, und Max, dieser zauderndste aller treudeutschen Opernhelden, singt nicht mit voller Stimme „Durch die Wälder, durch die Auen“, sondern lyrisch schmiegsam „Fraîs vallons, forêts, vastes plaines“.
Dieser „Le Freischütz“ war die einzige deutsche Oper, die vor Wagners Musikdramen im 19. Jahrhundert jenseits des Rheins reüssierte. Die Sprache ist freilich französisch, es gibt gesungene Rezitative und die die an der Grand Opéra übliche Balletteinlage – freilich erst kurz vor dem Finale. Dafür orchestrierte Berlioz Webers Klavierrondo „Auforderung zum Tanz“. Während die komplette Berlioz-Fassung als Kuriosität sonst im Archiv ruht, erfuhr die gewohnt brillant instrumentierte Einlage ein Eigenleben im Konzertsaal wie auch auf der Ballettbühne – unter dem Titel „Le Spectre de la Rose“ als eine der berühmtesten, von Michail Fokine für Vaslav Nijinsky choreografierten Kreationen. Das Berlioz/Weber-Kuriosum, von dem nur eine einzige, mäßige Aufnahme existiert, unterstreicht, dass sich der Weg zur deutschen Nationaloper zu einem nicht unwichtigen Teil auf dem Pfad der Opéra comique bewegte. man hört das deutlich in den Berlioz-Zusätzen, die glätten, die die musikalisch durchlaufenden Szenen vergrößern, die in den breiteren neukomponierten Abschnitten markant Webers Motive aufnehmen und diese doch „berliozisch“ einfärben. Die Brüche zwischen gemütvoll und grausig, derb und edel sind damit ausgeglichen, wobei der teuflische Samiel eine Sprechrolle bleibt, aber sein Helfershelfer Kaspar in der Wolfsschlucht singt.
Wie gesagt, wäre schön gewesen. So müssen sich Wieler/Morabito in Straßburg den Vergleich mit der seit 1980 in Stuttgart laufenden, längst legendären Achim-Freyer-Fassung mit ihren surreal verdrehten Volkskunstelementen und ihrem primitiv-perfiden Bauerntheater gefallen lassen. Der fällt nicht günstig aus, obwohl sie eine ähnlich dezidierte Bildsprache suchten. Und mit der glücklicherweise einmal der arg abgedroschen Viebrock-Ästhetik entkommenden Nina von Mechow als Ausstatten auch fanden. Zusammen mit den Videos von Voxi Bärenklau entsteht da eine sehr eigenwillige, aus Manga, Videospiel und Comic gespeiste, total künstliche Ästhetik, der stärkste Eindruck der ungleichgewichtigen Aufführung, in der sich die beiden Hauptprotagonisten, der wehleidige Max von Jussi Myllys und die spitze, dünne, flache Agathe Lenneke Ruiten nicht nur vokal quälten. Sie und alle anderen hatte nämlich ihre Dialoge roboterartig wie ein Übersetzungscomputer zu sprechen, sollten sich wohl der Lautsprecherstimme des Samiel annähern, der hier nur als Drohne auftaucht.
Bereits als Schatten ist er zu Anfang auf dem virtuellen Videovorhang zusehen, vor der Pause landet das surrende Ding mit den rotblühenden Elektroaugen mitten in der Wolfsschlucht. Die ist dann freilich schon zerstoben – als fauler Bühnenbildzauber aus gepixelten Hängekulissen und wild ballerndem Killerspiel, verschnitten mit grobkörnigen Reality-Bilder von allem, was schlecht ist auf der Welt. So wie vorher schon das böhmische Dorf nur eine grob gezimmerte Westernstadtkulisse war, wo man zwischen menschlichen Zielscheiben in Tarnuniformen und mit Paintball Guns Survivalcamp spielt. Der Wald ist rotes, baumloses Prospektgeäst, und wie ein gestrandetes Schiff thront das Schloss von Fürst Ottokar über den Wipfeln.
Die bocklosen Mädels in der mit Discokugel ausgestatteten Erbförsterei vertreiben sich die Zeit mit Comicfiguren und irgendwie leicht lesbischen Spielen. Gelungen ist die Jungfernkranz-Szene mit mutwilligen Manga-Brautjungfern, die gleich zum Freiwild für den Jägerchor im grauen Anzug werden, sich dem aber widersetzen und dann den als Cheerleaders vor sich hintreiben. Emanzipation auf dem Dorfe? Zumindest ein bisschen. Da ist manches gut und richtig beobachtet, doch dann schlafft es wieder ziellos ab, und schlurft ohne Lust und Lustigkeit dahin, vor allem in den gewollt drögen Dialogen. Am Ende taucht aus dem Hausdach unversehens der alles auflösende Eremit auf, und das um ein Jahr hinausgezögerte Happy End scheint durch den ausrastenden Kilian (Jean-François Filou) bedroht, der alle mit einem Messer befuchtelt.
Dabei hätte es durchaus gepasst, so moritatenartig und bildgrellaggressiv in diesen Weber zu starten. Ist das schöne, aber eben auch schwere Werk, vor dem alle Angst haben, Regisseure, Dirigenten, Sänger, keineswegs nur naiver Romantikbilderbogen, sondern eine durchaus spannende Parabel über Kriegspsychosen, männerbündische Mutproben, Versagensängste, restriktiven Sittenkodex. Bei dem es am Ende ausgerechnet der Himmel richten soll, Menschen sich wieder unter die Knute der Religion ducken.
Während Patrick Lange die so heimelige wie doppeldeutig-visionäre Partitur durchforste, sein klanglicher Ansatz ist meist rein und geradlinig, er freut sich über weite Strecken am prächtigen, wenn auch nicht immer ganz synchronen Orchesterspiel und an harmlos hüpfenden Spielopernrhythmen, so geht es auf der Bühne einigermaßen konfus zu. Im Graben wird diese musikalische Wundertüte gefüllt mit sorgsam ausbalancierter Innigkeit und Wärme, aber auch mit dumpfem Dämonengeblöke, doch szenisch ist schnell die Luft draußen. Die wirkliche „Freischütz“-Verfremdung oder Verwandlung, sie findet nicht statt.
Und auch sängerisch regiert diesmal linksrheinisch nur der Durchschnitt, am stärksten trumpft noch der vokal ebenfalls schlanke Kaspar von David Steffens. Josefin Feiler ist ein sexgierig schrilles, spätes Girlie-Ännchen, vokal vergnüglich. Frank van Hove als Erbförster Kuno bricht ein wenig am Bassrand ein, Ashley David Prewetts Fürst Ottokar klingt verzagt. Roman Polisadov ist ein vokal opulenter, wie gestanzt phrasierender Eremit. Und am Ende gibt es Rosen für alle – auch wenn da nicht allen gefällt.
Der Beitrag Eine Drohne namens Samiel: Jossi Wieler und Sergio Morabitos halbgarer Straßburger „Freischütz“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.