In der braven Schweiz ist man gegenwärtig sehr fasziniert von einer wilden, ungefügten, ja monströsen Opernfrau: Medea. Luigi Cherubinis erst in jüngster Zeit durch eine Neuedition wieder in ihrer originalen französischen Fassung mit Dialogen zu Ehren gekommene „Medée“ von 1797 wird wieder vermehrt gespielt, so auch 2015 in Genf. Innerhalb kurzer Zeit ging freilich auch in Basel, Zürich und nun am Grand Théâtre de Genève die 100 Jahre ältere tragédie lyrique gleichen Namens von Marc-Antoine Charpentier über die Bühne. Hier hatte man auch schon vor zwei Jahren eine für heutiges Verständnis von dem Stoff eher irritierende Variante aufgeführt, die freilich im 17. Jahrhundert besonders erfolgreich war: „Giasone“ von Francesco Cavalli brachte 1649 als Drama musicale um einen schon Offenbach vorausahnenden Schützenjäger diverser griechischer Damen die Menschen in Venedig zum Lachen. Und in Genf setzt der scheidende Intendant Tobias Richter zudem – wie es hier auch schon der öfters beschäftigte Christof Loy mit Jennifer Larmore praktiziert hat – auf die Überwältigungskraft einer reiferen Sängerinnenpersönlichkeit: Was ihm jetzt mit der in jedem Ton und jeder Sekunde ihres Spiels faszinierenden Anna Catarina Antonacci einmal mehr gelungen ist.
Wobei wieder erstaunt, wie gut und eigentlich unverständlich unbekannt nach wie vor Charpentiers einsames, von Pierre Corneilles Bruder Thomas getextetes Meisterwerk ist. Darin in diesem Jahrhundert eigentlich nur den früheren Geniestreichen Monteverdis ebenbürtig. Obwohl hier, gemäß französischen Musiktheatermaximen, eine ganz andere Ästhetik verfolgt wird. Die fünf Akte (der obligatorische Huldigungsprolog für König Ludwig XIV. kann, wie bei dieser Produktion geschehen, vernachlässigt werden) drehen und angeln sich nur um diese eifersüchtige Frau, die am Königshof von Korinth mit ihrem ihr abspenstig werdenden Gatten Jason zu kämpfen hat, der trotz zweier Kinder seine Frau zugunsten der jüngeren, rangmäßig ihn aufwertenden Prinzessin Kreusa verlassen will. Zu diesem fatalen Dreieck kommen als Hauptrollen nur noch deren Vater, der herrische König Kreon, sowie Orontes, der König von Argos hinzu, dem als Dank für seine Waffenbrüderschaft suggeriert wird, auch er könne die als Pfand hin und her geschobene Kreusa heiraten.
Aber eigentlich geht es nur um die Gefühle der Medea, als ältere, abgeschobene Gattin, als Frau, Mutter, Fremde und misstrauisch beobachtete Zauberin. Das ist psychologisch wie musikalisch brillant ausformuliert. Zwar schildern Charpentier und Corneille in ihrem meist parlandohaftem, sich selten arios ausweitenden Idiom auch die Gefühle und Strategien von Kreon, Kreusa und Orontes, aber die Oper fokussiert sich stetig stärker auf ein Psychogram der immer mehr an den Rand des Nervenzusammenbruchs und Wahnsinns geratenden Medea. Die kiefert sich furiose Duelle mit dem schwachen Jason, tötet ihre Rivalin, den König Kreon und ihre Kinder, lässt alles hinter sich und wird zur ewigen Rachefurie. Das kulminiert, elegant symmetrisch im dritten, ihr fast ganz allein gehörigen Akt, wenn sie die Geister und Furien der Unterwelt beschwört, um ihren Vernichtungsfeldzug zu starten.
Anna Catarina Antonacci, immer noch eine der großen, souveränen Tragödinnen der Singszene, trägt die ganze Zeit ein schwarzes Bussinesskostüm, möchte als souveräne Gestalterin alle Fäden in der Hand halten, auch wenn ihr diese zu entgleiten drohen. Bannend in jedem Ton, mal fahl, mal fordernd, mal leidenschaftlich, schließlich verzweifelt, wütend und fatal beherrscht sie die Bühne, schwingt sich aus reflektierenden Momenten zur später Tod und Schrecken bringenden Rachefurie auf. In den ersten zwei Akten, scheint sie noch das Geschehen aus einer passiven Position zu beobachten und zu analysieren, dann aber legt sie brutal los. Eine psychologisch packende Tour de Force, vokal wie darstellerisch als grandiose Charakterstudie einer zerrissenen, aber sich selbst treu bleiben müssenden Frau aufgezäumt. Die Antonacci, gleißend, durchscheinend, macht das grandios: Sie beherrscht die Bühne, auch wenn sie nur auf einem Stuhl in der Ecke sitzt.
Inszeniert hat dies als bannenden Protagonistinnen-Alleingang in einem klassizistischen, nur durch Spiegel geschmückten, durch seinen reflektierenden Boden seltsam irrlichternd leuchtenen Salon (Ausstattung: Bunny Christie) vor sechs Jahren David McVicar an der English National Opera. Eine zeitlos schlüssige, konzentrierte, auch den anderen Protagonisten Raum und Aufmerksamkeit einräumende Produktion, angesiedelt in der Zeit des zweiten Weltkriegs mit Militärs und eleganten Damen; die freilich auch die reizvollen, aber heute nicht selten umständlich und ablenkenden, in der französischen Hofoper obligatorischen Tanzdivertissement wirkungsvoll integriert. Im zweiten Akt hat Lynne Page, fast als Hommage an die frühen Astaire/Rodgers-Paarungen, ein paillettenglitzerndes Musical-Ballett auf einem in den Salon rollenden Miniflugzeug choreografiert. Im dritten Akt wüten die blutig verschmierten, aus dem rauchenden Höllenschlund im Parkettboden kriechenden Dämonen der Unterwelt, und im vierten Akt wird der vergeblich Widerstand leistende Kreon samt Soldateska unschädlich gemacht. Im fünften Akt schließlich stirbt Kreusa in ihrem von Medea vergifteten Kleid, Jason heult untröstlich über den toten Kindern in ihren blutverschmierten Schlafanzügen, und im Hintergrund schwingt sich Medea in der aufgesprengten Zimmerecke nach einem letzten Fluch nebelumwabert in die Lüfte. Wow!
Im hochgefahrenen Orchestergraben walten – nunmehr ebenfalls zum vierten Mal in Genf – Leonardo García Alarcón und seine Cappella Mediterranea. Das Originalklang-Ensemble klingt hell und voll, hat eine große Farbenpalette zur Verfügung und, gefällt durch seine dramatisch kraftvolle Varianz in dieser kleinteiligen, aber feingeistigen Partitur. Die Generalbassgruppe mit Theorbe, Gitarre, Fagott, Violone, Cembalo und Orgel macht viel Spaß, Windmaschinen und Donnerblech sorgen für Effekte.
Und auch die übrige Vokalbesetzung verblasst nicht hinter der überragenden Protagonistin. Der Jason von Cyril Auvity ist ein schwacher, winselnder, dauernd die Fraktion wechselnder leichtgewichtiger Tenortyp, der sich überall einschleimt und alles verliert. Willard Whites ordenrasselnder Kreon mag zwar inzwischen stimmlich mürbe sein, hat aber die selbstverständliche Autorität eines alten Haudegens. Der Bariton Charles Rice als Oronte trägt zwar fesche Fliegeruniform und hat vokale Stärke, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er der Gelackmeierte ist. Kreusa (die sopranzarte, aparte Keri Fuge) ist einmal mehr eine Trophy Woman, die zwar Gefühle hat, aber sich zu fügen weiß und als diplomatisches Werkzeug missbraucht wird. Und der Chor ist sowieso nur auf luxuriöse Party und Büffet aus.
So hat sich Tobias Richter als Genfer Intendant einmal mehr bewährt, er übergibt – ein „Maskenball“ steht noch aus – ein gut aufgestelltes, stilistisch offenes und bunt aufgefächertes Haus. Das zudem zumindest in den Publikumsbereichen aufwändig renoviert wurde. Die Foyers strahlen wieder im alten Belle-Époque-Glanz, Bars wurden aufgehübscht, unterirdisch hat man Platz für Probenräume dazugewonnen.
Aviel Cahn, endlich wieder ein Schweizer, kann also als neuer Intendant ab Herbst beginnen. Zehn Jahre war er erfolgreich und ehrgeizig an der Opera Vlaanderen in Antwerpen/Gent, seine Handschrift nimmt er nun auch mit in die Suisse romande. Für seine erste Spielzeit, die er unter eines dieser heute so wohlfeilen Motti, hier „Die Hoffnung wagen“ gestellt hat, sieht er neun Premieren inklusive einer Uraufführung sowie vier Ballettpremieren vor, die natürlich die unvermeidlichen „Fragen von heute“ als dem 21. Jahrhundert strikt zugewandte Kunstform beantworten sollen. Der ganz große Bumm soll die gerade wieder vielgespielte Meyerbeer-Oper „Les Huguenots“ werden, die Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenieren und mal wieder Marc Minkowski dirigiert.
Vorher gibt es aber noch Monumentaleres, „Einstein on the Beach“ von Philip Glass (Dirigat: Titus Engel; Regie: Daniele Finzi Pasca). Auch Olivier Messiaens bewährt spektakelnder „Saint François d’Assise“, wird, ein helvetisches First, gegeben. Der bildende Künstler Adel Abdessemed gestaltet, Jonathan Nott dirigiert. Der ebenfalls sehr präsente Christian Jost komponiert die Oper „Voyage vers l’espoir“ nach dem Oscar-prämierten Schweizer Film von Xavier Koller, Kornél Mundruczó führt Regie, Gabriel Feltz dirigiert. Die im Exil lebende türkische Autorin Asli Erdogan wird mit dem Regisseur Luk Perceval das Libretto von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ bearbeiten; Fabio Biondi steht am Pult. Ballett und Oper bringen Rameaus „Les Indes galantes“ auf die Bühne, Lydia Steier und Demis Volpi zeichnen verantwortlich, Leonardo García Alarcón dirigiert erneut seine Cappella Mediterranea. Außerdem gibt es „Aida“ (Phelim McDermott; Antonino Fogliani), der Anti-Regisseur Iván Fischer kümmert sich szenisch wie musikalisch um Monteverdis „L’Orfeo“, Laurent Pelly um „La Cenerentola“, die Stefano Montanari dirigiert.
Das Ballett des Grand Théâtre wird nach wie vor von Philippe Cohen geleitet. Der Dreiteiler „Minimal Maximal“ wird als Echo auf „Einstein on the Beach“ choreografiert von Sidi Larbi Cherkaoui, Andonis Foniadakis und Ioannis Mandafounis. Beschlossen wird die Tanzsaison mit einer Kreation des jungen Choreografen Jérémy Tran: „Ce qu’il nous reste“.
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