Quantcast
Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
Viewing all articles
Browse latest Browse all 826

Händel mit Hundekeule: ein schön gesungener „Rodrigo“ im Shabby Chic zur Eröffnung der Göttinger Festspiele

$
0
0

Zufall internationaler Opernspielpläne: Die 42 Opern des Georg Friedrich Händel, die vor 99 Jahren wiederentdeckt und neu befragt wurden, haben in den letzten 30 Jahren eine solche Renaissance erfahren, dass sie wirklich wieder im Repertoire verankert sind. Und so konnte man – Greta Thunberg, bitte weghören – mal schnell von Madrid nach Göttingen fliegen, um zwei chronologisch aufeinanderfolgende Frühwerke zu erleben. Freilich in umgekehrter Reihung. Im Teatro Real machte eine sechsteilige, stargespickte Tournee mit Il Pomo d’Oro unter Maxim Emelyanychev konzertant Station und man konnte als wonniglich-verdorbenes Mutter-Sohn-Paar Joyce DiDonato und Franco Fagioli als Nero und Agrippina in der gleichnamigen Oper von 1709 genießen. Und zur Eröffnung der Göttinger Händel-Festspiele, dort wo eben 1920 mit „Rodelinde“ alles (wieder) begann, dort gab es die Opernnummer 5. War „Agrippina“ bereits für Venedig komponiert worden, so wurde der Vorgänger „Rodrigo“ als Handels erste italienische Oper im Auftrag des Principe Ferdinando de’ Medici vermutlich im Sommer 1707 während seines Aufenthaltes beim Marchese Francesco Maria Ruspoli in Rom geschrieben. Die Florentiner Uraufführung im gleichen November scheint inzwischen verbürgt. Da der dritte Akt lange als verschollen galt, wurde das endlich vervollständigte Werk erst 1984 in Innsbruck wiederaufgeführt. Und jetzt erstmals in Göttingen gegeben.

Während der etwas überlang mehrteiligen Ouvertüre samt Pantomime im shabby schicken Einheitsbühnenbild von Dorota Karolczak ist viel Zeit für Nachdenkliches. Was hier zu hören ist, scheint typisch festlicher, melodienstrammer Händel, der 25-Jährige ist komplett sattelfest in seinem Idiom. Aber es fehlt – in „Agrippina“ ist das gemeistert – noch ein wirklich dramatischer, musiktheatralischer Zugang zum Stoff. Die Geschichte von Roderich, dem letzten König der Westgoten, dessen Untergang in Spanien um 711 im Legendären verdämmert ist, bleibt einigermaßen im Ungefähren. Hier also kann die melodramatische Oper einsetzen. Und die tut das, indem sie eine Liebesbeziehung des blutrünstig haltlosen Rodrigo zur von ihm bereits geschwängerten Florinda konstruiert. Von dieser will der Machtmacho aber ebensowenig etwas wissen, wie von seiner kinderlosen Gattin Esilena. Dann gibt es noch den aragonesischen König Evanco, den der Feldherr Guliano gefangen genommen hat. Nach seiner Befreiung verbindet er sich mit diesem und der rachsüchtigen Florinda gegen Rodrigo. Ein weiterer Militär, Fernando, spielt ebenfalls eine Nebenrolle, und schon vor „Giulio Cesare“ gibt es einen abgeschlagenen Gegnerkopf, mit dem auf der Bühne hantiert wird.

Wie gesagt, schon während der kaugummiartigen, aber hübschen Ouvertüre wird deutlich: Laurence Cummings, der in drei Jahren die Leitung des FestspielOrchesters Göttingen an George Petrou abgibt, hat einen wunderbaren Klangkörper aufgebaut, knusprig, satt, gut ausbalanciert, scharf und zackig phrasierend, das macht Hörspaß. Aber man merkt auch bald, der doch noch unerfahrene Händel hat sein szenisches Pulver nach etwa einer Stunde verschossen, dann sind die Konflikte auserzählt und alles tritt, trotz köstlicher, aus seinem weltlichen Kantatenwerk ausgeborgter Melodien, ein wenig auf der Stelle. So wie auch die behäbig trashige Inszenierung von Walter Sutcliffe, die nur Variationen des immer wieder Gleichen bereithält.

Natürlich ist auch der einzige Schauplatz nicht eben erkenntnisfördernd, obwohl er liebevoll so marode wie das ganzen Westgotenreich gemacht wurde. Pittoresk schimmeln da die labyrinthisch verteilten Wände, soweit sie überhaupt noch vorhanden sind. Es gibt Durchschläge, brechende Türstürze, heraushängende Kabel, nach der Pause liegt der Lüster in pinkem Licht am Boden, überall ist Müll verstreut. Und als Erinnerung an eine vergangene Zivilisation ist sogar das aus dem Museum entliehene Original des Göttinger Wahrzeichens aufgestellt: das Gänseliesel auf dem Markbrunnen. Aber in der Mitte warten Sitzlandschaft und Barwagen auf ihren Einsatz, denn militärisch ist nur die ausufernde, mit Alkohol und immer wieder aufflammenden Zärtlichkeiten ausgetragene Zimmerschlacht zwischen den ein wenig messihaft agierenden, new-wavig Neon-Eighties gestylten Geschlechtern. Und am Ende, da sitzen sie dann alle, Rodrigo ist eliminiert, hungrig um dessen toten Hund und grillen eine Keule. Auch das gab es noch in keiner Händel-Inszenierung.

Gesungen wird sehr schön und virtuos, nur nicht vom Countertenor Russell Harcourt, der sich eher anhört wie vom Stamme Capra – bei der heutigen Sängervarianz auch in diesem Fach fast schon eine Seltenheit. Der weniger stimmverhaltensauffällige Leandro Marziotte (Fernando) hat freilich schon von Händels Seite her nur wenig zu melden. Erica Eloff ist ein so widerlich-weinerlicher wie wie sopranstarker Titelheld in Drag; die Maske hat ganze Arbeit geleistet. Trotzdem tönt sie betörend und berührend. Anna Dennis’ Sopran steigert sich großmächtig vor allem in den temperamentvollen Arien, aber auch nur geigenbegleitet entfaltet sie unerwarteten Liebreiz. Während Fflur Wyn (Esilena) für die sorgfältig gestalteten Legatobögen und herrlich glockige Spitzentöne zuständig ist. Jorge Navarro Colorado (Giuliano) wird auch in schnellstem Temp nicht aus den Koloraturkurven getragen.

Gerade im unmittelbaren Vergleich wird freilich deutlich: Georg Friedrich Händel hat in nur zwei italienischen Jahren unheimlich viel gelernt: nach der Fingerübung „Rodrigo“ mit ihrem noch schematischem Personal und wenig spezifischer Gesangsbehandlung, gelingt ihm in „Agrippina“ ein erstes, echtes Opernmeisterwerk. Für Göttingen war es freilich durchaus ein bedeutender Abend. Und im nächsten dem 100. Jahr, da greift man wirklich nach den Händel-Sternen. Da sollen alle 42 Operntitel in den unterschiedlichsten Formaten präsentiert werden: szenisch, konzertant, als Jazz-Arrangement, Puppentheater, Film oder Lesung.

Der Beitrag Händel mit Hundekeule: ein schön gesungener „Rodrigo“ im Shabby Chic zur Eröffnung der Göttinger Festspiele erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 826