Sieben Pas de Deux. Vier Variationen. Das ist der technische Aspekt. Diese Figur ist eigentlich permanent auf der Bühne. Friedemann Vogel fliegt, springt, rennt, hebt, hebelt, führt, wird getrieben, agiert, reagiert, verändert sich – in über drei Spielstunden. Denn dieser Kronprinz Rudolf, schwach, aber ehrgeizig, jähzornig und feige, liebesbedürftig und abweisend, zärtlich und brutal, zurückgewiesen von seinen Verwandten wie von seiner Zeit, er ist die wohl anspruchvolllste Rolle die ein erzählendes Ballet für einen Ballerino vorhält. 1978 hat sie Kenneth MacMillan geschaffen. Und sein „Mayerling“ ist, eben beim Stuttgarter Ballett als eigene Inszenierung in Deutschland erstaufgeführt, eben nicht nur der sehr genau beobachtete, psychologisch komplexe Totentanz einer erstarrten Ständegesellschaft und einer dysfunktionalen Herrscherfamilie. Diese royale Selbstmordgeschichte Anno 1889 bietet auch neben einer Reihe von schlaglichtartig ausgeleuchteten Frauenporträts unterschiedlichster Charakteristik eine ungemein komplexe, gar nicht sympathische, alles dominierende männlichen Hauptpartie.
Und in die steigert sich voll Grandezza, Grazie und Größe der schwäbische Startänzer, der sich nicht nur seinen Akzent bewahrt hat, sondern auch seine jungenhaft bescheidende Art. Dabei ist er seit zwei Dezennien als Ballettprofi im Geschäft, eben ist er 40 Jahre alt geworden. Die sieht man ihm nicht an, dafür eine immer noch ungebrochene Lust auf Arbeit, Herausforderung, Tanzfutter. Und ähnlich wie 2010 in Marco Goeckes „Orlando“ hat Friedemann Vogel hier eine neue Stufe seiner Karriere erklommen. Die wirklich auf einem körperlichen Höhepunkt scheint. War der androgyne, durch die Jahrhunderte wandernde Protagonist nach Virginia Woolf eine mimische Herausforderung, Goeckes eigenwillige Technik war ihm ja schon länger vertraut, so ist der sterbensmüd’ morbide, aber eben auch ruppige k.u.k.-Thronfolger eine psychologische, dabei ebenso athletische Herausforderung.
Verhalten, sogar technisch unsicher wirkt dieser Rudolf anfangs noch im imperialen, sich wie ein Korsett ihn einschnürenden Pomp seiner Hochzeit mit der ungeliebten belgischen Prinzessin Stefanie. Während um ihn herum die Hofgesellschaft walzt und flutet – Jürgen Rose entfaltet mit nonchalanter Defilee-Geste die ganze Pracht seiner stofflichen Leidenschaften – wirkt der blasse, hellgrau bleiche Prinz wie ein Niemand, verschwindet beinahe zwischen dem Karussell zur Schau gestellter Egos und Ambitionen. Die Frauen umschwirren den bald syphiliskranken Erben des 600-jährig maroden Haus Habsburg wie Motten das Licht. Und Friedemann Vogel leuchtet stetig heller, konturenstärker.
Immer Vollgas gibt er, täglich ab dem ihm so lebensnotwendigen Training, und sieht auch nach langer Probe unangestrengt aus. Das sich selbst Schinden ist ihm zweite körperliche Natur. Wo sieht er sich selbst zwischen den beiden gegenwärtigen Tänzer-Extremen, zwischen Bad Boy Sergej Polunin und Glamour Boy Roberto Bolle? „Weiss nicht“, kommt es zunächst wortkarg. „Schubladendenken mag ich nicht. Ich versuche, mich in allen Boxen wiederzufinden, sonst entdeckt man auch nichts Neues mehr an sich. Schienen und Schubladen sind unkünstlerisch. Ich weiß nicht, wohin ich mich für die Außenwelt stecken soll.“
Er lässt es auf sich zukommen. So hat es immer funktioniert. Und das in einem Beruf, wo der Blick in den Spiegel dazugehört, inzwischen fast jeden Tag auch das sich Selbst-Inszenieren in den sozialen Medien. Friedemann Vogel, die Website bräuchte ein Update, auf Wikipedia gibt es ihn nur in Englisch, auf Instagram postet er sparsam, hält auf Abstand. Er gibt ja alles auf der Bühne, zeigt fast jeden Zoll seines geschmeidigen Körpers. „Kürzlich habe ich längere Zeit in einem provisorischen Saal ohne Spiegel geprobt. Das war interessant. Ich finde so meinen Körper wieder ganz anders, kann mich nicht sehen, korrigieren, muss spüren, fühlen. Wobei wir ja Spiegel gewöhnt sind, er ist Arbeits-, nicht Eitelkeitsinstrument. Meine Lehrerin hat immer gesagt, man muss den Platz immer wechseln, um nicht in die Routine der immer gleichen Selbstkontrolle zu verfallen.“ Alles also eine Frage der Perspektive. „Das Körpergefühl muss letztlich von innen kommen, dann ist es authentisch und einzigartig. Deswegen mag ich Videos auch nicht so gern. Ich sehe da nie, was ich gefühlt habe. Und wenn ich etwas verändere, dann wohlmöglich das, was mich ausmacht. Und in meinem Karrierestadium geht es ja kaum noch um Technisches, höchsten als Mittel zum Ausdruckszweck.“
Neben Birgit Keil scheint Vogel nicht nur der einzige deutsche Tänzer, der in Stuttgart zu Ruhm gereift ist. Er ist nach dem lange schon abgetretenen Peter Breuer auch der einzige Kerl, dem das international geglückt ist. Friedemann Vogel ist in Mailand und Moskau, in New York, Japan und Paris gefragt, er hat sie nie beworben, die Ballettchefs wollten ihn. Nur in Deutschland, da ist er kaum bekannt, obwohl er in Hamburg, München, Berlin gastiert. Freiheiten, die ihm sein Lebensmittelpunkt Stuttgart bietet, weshalb er auch immer hie geblieben ist, obwohl es genügend Abwerbungsversuche gab. Er springt mal für eine Porsche-Anzeige, ein andere Werbefoto, wir er scheinbar auf dem Eckensee vor der Oper tanzt, ging endlich auch mal im Internet viral.
Kürzlich hat er in Rom für Dior getanzt und ist beim San-Remo-Schlagerfestival im Fernsehen zu sehen gewesen. „Wahnsinn, was das ausmacht, wie man so für eine in Deutschland gern übersehene Kunstform wirbt. Tags zuvor hatte ich noch eine für mich fantastische ,Kameliendame’ in Stuttgart getanzt und bin danach einfach heimgegangen. Und wegen ein wenig Tanzeinlage im TV ist man gleich im Gespräch.“ Nein, für „Let’s dance“ sei er nie angefragt worden, nur mal für irgendeine Ninja-Warrior-Sendung: „Die wollten einfach nur einen durchtrainieren Körper vorzeigen.“
Er geht nicht ins Sportstudio, sein früher weicher Körper, der alles konnte, hat sich verfestigt, ist stärker, athletischer geworden. Noch immer ist er ein Lyriker, aber er hat inzwischen – siehe „Mayerling“ – auch den Frauen mißbrauchenden Macho drauf. Und er ist fast schon dankbar, für seine Verletzungspause 2005. Eine Stressfraktur, die sich zum Tumor auswuchs, erst nicht richtig erkannt, dann schnell und gezielt behandelt: „Ich wusste nicht, ob es weitergeht, es hat mich reifer und vorsichtiger gemacht. Und wohlmöglich vor dem Ausbrennen bewahrt.“ In dieser Zeit, sein langjähriger Partner Thomas Lempertz hat eben zu tanzen aufgehört, versucht er sich auch mit einem Laden und einem Modelabel. Goldknopf, hieß es. „Ich mag Mode. Aber nach einiger Zeit habe icha gemerkt, dass das nichts für meine Zukunft war. Ich will dem Tanz auch nach meiner aktiven Karriere verbunden bleiben.“
Wann wird das sein? „Ich weiß es nicht, werde es schon spüren. Gegenwärtig kann ich noch alles tanzen, schmerzfrei, die Jünglinge, die Prinzen, alle abstrakten Rollen. Ich genieße das. Ich plane nicht so gern.“
Friedemann Vogel hat vier Brüder, er ist der Nachzügler, fast wie ein Einzelkind mit mehreren Vätern, „die haben sich in meine Erziehung eingemischt“. Der Älteste Bruder ist ihm 18 Jahre voraus, der mittlere, Roland, zwölf Jahre. Der war schon vor ihm Solist am Stuttgarter Ballett. „Der hat mich mitgenommen aus Tübingen, so hatte ich schon früh direkten professioneller Kontakt mit der Tanzwelt. Ich wollte das schon immer machen. Ich haben nie darüber nachgedacht. Erst Privatschule in Tübingen, es war mir nicht genug, deshalb gleich Cranko Schule in Stuttgart. Ich habe mich nicht bremsen lassen.“
Alle Brüder sind künstlerisch tätig, Oboist, Klarinettist, Tänzer, Schauspieler-Dramaturg. Zwei der Brüder sind schwul, so war es auch für ihn nie ein großes Ding. „Kein Coming Out. Mein ältester Bruder saß schon mit Typen auf der Couch, das war normal, ohne jedes Versteckspiel.“
Im MacMillan-Stil ist er bewandert. Das sieht man in „Mayerling“, besonders, je länger der Abend dauert, die Anforderungen sich bis zu dem atemraubend athletisch-expressiven Todesduo steigern: „Das macht noch immer Spaß, man merkt, warum das Stück so erfolgreich ist. Die Schritte, sind einfach gut, sind einzigartig und machen Sinn. Ein wird zum Marathon mit wechselnden Partnerinnen, ist körperlich wie darstellerisch erfüllend. Das brauche ich und da habe ich auch keine Routine, bin voll dabei, arbeite an mir. Das Training ist da wie mein Wasser.“
Und am Ende, wenn Jürgen Rose, der dieses als plüschig und staubig verschriene Werk durch seine neue, lichte, weitgehend monochrome Ausstattung wieder auf seine moderne Essenz zurückgeführt hat, nur noch einen Paravent mit dem toten Kronprinzen umfallen lässt, dann wird eine weiteres Geständnis von Friedemann Vogel klar: „Ich liebe große Bühnen, die leere Fläche ist etwas Schönes. Ich bremse nicht, das macht mich müde, ich brauche den Fluss, die Weite.“ So wie Friedemann Vogel auch Stuttgart braucht, den Alltag, den Kokon, die Zweisamkeit.
Auch auf der Szene. Denn er wird ebenfalls als Partner geschätzt. Fünf Frauen, sind es in „Mayerling“, mit denen er tanzt, die er prügelt, benutzt. Glasklar brutal ist das erzählt, MacMillan versteckt nichts hinter Ballett-Prüderie. Elisa Badenes ist großäugig lüstern die erotisch aufgeladene Mary Vetsera, die Rudolf als Todesengel dient. Diana Ionescu verkörpert die fade, zurückgewiesene Gattin Stephanie. Miriam Kakerova gibt die romantische, aber gefühlskalte Mutter Elisabeth, in deren Schoß sich der Sohn schmiegt. Alicia Amatriain ist ganz wunderbar als ehemalige Maitresse Gräfin Larisch, beide würden eigentlich zusammenpassen, sie versteht ihn als einzige. Und Anna Osadcenko ist eine ostentativ zupackende Gunstgewerblerin Mitzi. Zudem stehen in dieser denkwürdigen Galapremiere, die dem neuen Intendanten Tamas Detrich ein glanzvolles Spielzeitfinale beschert, drei weitere Stuttgart-Legenden auf der Bühne: Marcia Haydée als eigentlich damals längst tote Erzherzogin Sophie mit der längsten Schleppe, Egon Madsen als zu alter, aber feiner Kaiser Franz Joseph. Und die 91-jährige Georgette Tsingurides als Hofdame.
Doch diesen gründerzeitlich düsteren Bilderbogen, dessen schwerblütige, von John Lanchbery orchestrierte Liszt-Partitur das Staatsorchester unter Mikhail Arrest aufglühen lässt, hält besonders Friedemann Vogel als Anti-Ballettprinz mit dem Hamlet-Totenschädel zusammen. Der immer wieder anders aussieht, ein großes emotionales Spektrum durchmisst, sich Morphium spritzt, seine Frau vergewaltigt, sich den drohenden Kopf hält, mit dem Revolver spielt und mit dem Jagdgewehr einen Menschen tötet. Und das alles – Genius MacMillan – durch Tanz verkörpert, aus seinem Körper heraus entstehen lässt. Mal sehen, war die Kunstform für diesen besonderen Ballerino noch bereit hält.
Der Beitrag Neue Ausdruckshöhe: Glanzvolle Rehabilitation für Kenneth MacMillans kakanischen Totentanz „Mayerling“ – vor allem wegen Friedemann Vogels Anti-Märchenprinzen erschien zuerst auf Brugs Klassiker.