Es ist voll hier. Sonntagnachmittag, das Wetter lädt in die Plaka oder gleich auf das ägäische Meer, die Bucht von Faliro liegt Blaugrau im Sonnendunst. Doch die Menschen wuseln durch die Bibliothek, sitzen am Computer, mampfen mit gutem Appetit im Café, stehen bei den diversen fliegenden Verkäufern um ein Neskaffeefrappé an, das heimliche Lieblingsgetränk der Griechen, kaufen im Shop netten Tinnef oder sie steigen gleich dem Opernhaus aufs Dach. Das mit Vorliebe. Im achten Stock geht es aus dem Panoramaaufzug hin zum Panoramablick mit Glasboden auf Akropolis und Hymettos oder zum Lighthouse, dem durchsichtigen Bar-Kubus unter dem aufgestelzten Sonnenkollektorendachsegel, hinter dem der Sardonische Golf und die Inseln locken. Zu Stadtseite aber fallen die Dächer, darunter sind auch die Parkhäuser und Funktionsgebäude, sanft als großzügige, abwechslungsreiche, sehr grüne, Olivenbaum durchsetzte Parklandschaft ab, mediterran, formal, als Spielecke, mit Brunnen, Labyrinth, Laufstrecke. Links zirkelt sich ein 400 Meter langer Kanal als symbolische Verbindung zum Meer. Er liegt trocken, wird gerade gereinigt. An den Rändern dieses Panoramablicks glitzern die sich die Hügel hochfressenden Häuser dieser eigentlich gar nicht so schönen Stadt trügerisch im griechischen Licht. Und kein Geräusch ist hier oben mehr von der sechsspurigen Posidoinios-Avenue zu hören, die einen mit dem Shuttlebus erstaunlich schnell aus dem Athener Zentrum zum Hafen bringt. Keine Frage, eineinhalb Jahre nach der offiziellen Eröffnung des neuen Domizils der 1940 gegründeten Griechischen Nationaloper als Teil des Kulturzentrum der Stavros-Niarchos-Stiftung brummt es. Und jetzt ist auf dem ehemaligen Rennbahn- und Sportgelände wirklich die „Kallithea“, die „schöne Aussicht“ vorhanden, nach der die gesichtslose Vorstadt zwischen Piräus und der Bucht von Faliro benannt ist.
Die Menschen kommen gern, füllen den Kunst- und Wissenskoloss namens Stavros Niarchos Foundation Cultural Center (SNFCC) mit Leben. Nicht nur drinnen und draußen in der Beton- und Glas-, aber eben auch Baum- und Graslandschaft, die Renzo Piano entworfen hat. Und auch die anschließende Vorstellung ist voll, obwohl ungewohnte Kost geboten wird: Dmitri Schostakowitschs wildwütiges Jugendwerk „Lady Macbeth von Mzensk“, inszeniert von einem Weltstar, den man eher nicht in der Oper vermutet, der aber gute Regiearbeit geleistet hat: Fanny Ardant, inzwischen 70 Jahre alt.
In warmem, typischen Renz-Piano-Rot sind der Sitze und die Holzverkleidung aus amerikanischem Kirschbaum im intimen, aber auch großzügigen Zuschauerraum mit seinen 1400 Sitzen gehalten, der nüchtern und doch festlich wirkt. In ausgewaschenem Rot prunkt auch Tobias Hoheisels hölzernes Einheitskonstrukt. Es drückt bühnenfüllend nach hinten in eine Ecke, links sind drei Öffnungen und ein Tür, rechts, unter einem Balkon, geht es zum doppelten Scheunentor. Ein dekonstruktivertes Bauernhaus. In der Mitte, eine Wand lässt sich zurückschieben, ist das Schlafzimmer Katerinas aufgebockt, Dreh- und Angelpunkt dieser Gesichte. Es ist großflächig gemustert, so wie auch die Bettdecken, und ganz sparsam die Kostüme der Oscar-Preisträgerin Milena Canonero und von Petra Reinhardt. Nur am Ende ist die Bühne leer, hinten symbolisieren gebrochene Zaunlatten die sibirischen Wälder.
Diese Oper, die ihren Komponisten fast das Leben kostete, nachdem Genosse Stalin sie zwei Jahre später, 1936, begutachtet und für „Chaos statt Musik“ befunden hatte, sie funktioniert eigentlich immer. Als eines der wirkungsvollsten Werke des 20. Jahrhunderts und als sicherer Erfolg.Weil die nicht eben erfreuliche Geschichte klar und effektiv erzählt wird. Weil die Posaunen japsen nach dem kleinen Orgasmus-Tod am Ende des ersten Aktes, wenn der superpotente Angestellte Sergej die sinnlich unerfüllte Kaufmannsgattin Katerina beglückt. Zum schamlosen Sex kommt ein heilloses Menschenbild hinzu, dass von Herzlosigkeit und Brutalität, Langeweile und Stupidität kündet. Plus der Darstellung einer dumpfen Dorfgemeinschaft aus lethargischen Mitwissern, einem dämlichen Popen wie einer korrupt blöden, zu einem saftig kruden Marsch antanzenden Polizei.
Das gipfelt, nach greller Satire, kruder Mordlust und unverstellter Geilheit, in der melancholisch-melodiöse Humanität atmenden, dabei hoffnungslosen Verlorenheit eines sibirischen Straflagers, wo die von ihrem Geliebte verlassene Katerina dessen neue Maitresse mit in den nassen Tod zieht.
Katastrophe und Katharsis, das kennt hier alle aus ihren griechischen Tragödien. Und so inszeniert es Fanny Ardant auch, uneitel, professionell und auf den Punkt gebracht. Dazu braucht sie keine allfällige Aktualisierung, wie man sie gegenwärtig auch bei diesem eigentlich zeitlosen Stück meist zu sehen bekommt. Die Ardant traut sich sogar ein wenig russische Folkore, vor allem in der Hochzeitsszene, wenn es endlich mal bunt wird. Sonst wird das triste Leben auf dem russischen Land nicht verschwiegen. Den spielfreudigen Chor führt sie gern im Kollektiv als Block, die Personen sind immer an der richtigen Stelle.
Am Anfang, wenn Katerina brütend am Fenster sitzt, balzen im Hof zwei nackte Männer mit einem Art Hahnenradschwanz in Weiß und Schwarz auf dem Rücken. Es geht hier um Machtgehabe, und so gibt Fanny Ardant, die bisher nur in Paris Messagers Operette „Veronique“ und Stephen Sondheims „Passion“ inszeniert hat, in dieser von ihr gewünschten Oper, dem stilisierten Realismus immer wieder ein Touch Metaphysik. In der Bettszene, wälzen sich hinter der Scheunentür die Leibe. Sind alle tot, dann trägt letztmalig ein nackter Hahn eine leblose Eva herein. Das Collectif (La)Horde ist dafür zuständig.
Gesungen wird ähnlich schlagkräftig und geradlinig, dies ist kein Stück für Subtilitäten. Svetlana Sozdateleva, eine als Katerina Ismailova vielgefragte Sängerin, wartet mit einer breiten Mittellage und etwas gaumigen Tönen auf. Lust und Frust lassen ihren Körper erbeben, den Mord als angeekelter Befreiungsversuch aus freudlosem Ehegefängnis glaubt man ihr sofort: Da steht kein Monster, sondern eine haltlose Frau, von den Verhältnissen verbogen. Sergey Semishkur als Sergej schwitzt Testosteron, was sein gepresster Tenor klar macht. Auch die Gegnerin im Gefangenenlager, Victoria Mayfatova, ist russischsprachig, das ganze andere Ensemble sind Griechen. Yannis Yannisis trumpft basstoll als notgeil erpresserischer Schwiegervater. Yannis Christopoulos ist tenorgrell der impotenter Gatte.
Schostakowitschs griffig-grelle Provinzmordsatire gelingt so als übersexualisiertes Zeit- und Zerrbild eine virtuos-meisterliche Partitur, als funkensprühendes Wunderwerk aus witziger Instrumentierungskunst, neuer Sachlichkeit und famos übersteigertem Menschheitspathos. Es mäht auch sein Athener Publikum im Beifallssturm nieder.
Der in Deutschland lebende Vassilis Christopoulos, der auch schon die Eröffnung des Hauses mit der Erstaufführung (!) von Strauss’ „Elektra“ leitete, und sein williges Opernorchester schärfen Ecken und Kanten dieser buntscheckigen Partitur, rhythmusknatternd werfen sie sich in Walzer und Märsche. Tuba und Posaunen verröcheln triebhaft in ihren berühmten Orgasmus-Glissandi, aus jedem Streichersolo träufelt Honig, scheinbar weichherzige Holzbläser-Soli verklären unsympathische Menschen. Man versteht es, die Härte dieser rhythmisch aufgeladenen Musik mit Eleganz und dichtem Schwung zu servieren, Christopoulos erweist sich als wacher Sängerbegleiter und gelassen vorantreibender Geschichtenerzähler. Ihm gelingt robuste Sinnlichkeit, unter Dampf, etwas mehr verlorene Melancholie hätte man noch aufspüren können. Dies ist siegestaumelnder Schostakowitsch, wie er singt und mordet – ohne jede blinde Stelle.
„Als die Leute den Beginn der Bauarbeiten sahen, wurde es ein Leuchtturm der Hoffnung“, sagte man über dieses symbolhafte Kulturzentrums. Es ging voran, ganz nach Plan. Es war für sie. Dem Staat geschenkt, beschlossen schon 2009, von der wohl größten privaten Wohltätigkeitsorganisation im Land. Die der 1996 gestorbene Reeder Niarchos, Buddy und Konkurrent von Aristoteles Onassis, gegründet hat. Gespeist aus einem Teil seiner – weitgehend steuerfrei – angehäuften Milliarden. Griechische Gegensätze. 670 Millionen Euro hat das SNFCC am Ende gekostet, und natürlich war und ist ein neuer öffentlicher Platz zum Lesen und Musikhören gerade in Griechenland ein unglaublicher Luxus. Aber ein lebenswerter.
In der zweiten Spielzeit im neuen Haus, läuft alles nach Plan. Hier gibt es drei Hinterbühnen, die freilich auch für Proben herhalten müssen, großzügige Ballett-, Chor- und Orchesterräume. Auch ein Großteil der Verwaltung und die Kostümabteilung arbeiten im Haus. Die „Lady“ ist die 17. Produktion der Saison im großen Auditorium, 38 waren es bereits im Studio. Man findet im Spielplan natürlich viel Italienisches, aber eben auch Zeitgenössisches – und griechische Operetten, von denen es eine ganze Menge gibt. Im alten Haus, dem Olympia-Theater aus den Fünfzigerjahren in der Akadimias-Straße, unweit dem von Theophil Hansen erbauten Stammsitz der Nationalbibliothek, lässt jetzt die Stadt studentische Musiktheaterproduktionen speilen. Und auch das Megarom-Konzerthaus produziert ab und an Oper in seinem eigenen Theater. So scheint die Musiktheatersituation in Athen reicher als gedacht. Auch nach der Übergabe an den Staat, der etwa 12 Millionen Euro pro Jahr zuschiesst, wird die Niarchos-Stiftung das Kulturzentrum für zunächst fünf Jahre weiter subventionieren. Zehn Millionen Euro jährlich sind eingeplant, die Hälfte für die laufenden Kosten von Park und Kulturzentrum, die andere Hälfte für Veranstaltungen.
Wie sagt doch Operndirektor Giorgos Koumendakis, ein Komponist, der unter anderem die Musik für die Eröffnungsfeier der Athener Olympischen Spiele im Jahr 2004 schrieb? „Die neue griechische Nationaloper ist das Symbol eines Neuanfangs. Sie steht für eine Freiheit, die leider nicht vielen Menschen in unserem Land vergönnt ist. Für künstlerische Arbeit unter bestmöglichen Bedingungen.“ Und ja, Athen hat nicht nur ein herrliches Akropolis-Museum, es hat nun, in beziehungsreicher Sichtweite, auch so etwas wie eine neue Kunst-Akropolis.
Der Beitrag Eineinhalb Jahre nach der Eröffnung: Eindrückliche Stichprobe an der Griechischen Nationaloper als moderne Kunst-Akropolis mit Fanny Ardants „Lady Macbeth“-Produktion erschien zuerst auf Brugs Klassiker.