Der Saal heißt „Tirol“, im atmosphärelosen Foyer lautet das Motto „Kristall“ und ja, in einem Glaskasten häufen sich die Glitzersternchen der Firma S. Wir sind also in Innsbruck, im bockhässlichen, braungetäfelten Congress mit seiner Seventies-Anmutung, wo nix zusammenpasst, alles ein Geschmacksverbrechen ist, zugestellt, unübersichtlich und zudem mit grässlicher Kunst am Bau dekoriert. Macht aber nichts, der Klang im später ausverkauften Saal ist anständig, und gespielt wird hier einfach fein. Die Bamberger Symphoniker sind mal wieder auf der Durchreise und haben etwas entschieden Heimatliches dabei: „Má vlast“, Bedrich Smetanas sechsteilig patriotische Dichtung, die wenigstens klanglich zur Erstarkung eines tschechischen Nationalstaates beitragen sollte – wenn man schon politisch weiterhin von dem Österreichern abhängig war. Aktuell haben die Ösis andere Sorgen, die Tschechen (längst wieder ohne Slowakei) gerieren sich bisweilen nationalistischer als im 19. Jahrhundert Aber ein deutsches Orchester in Tirol lässt die slawische Seele glühen. Und ein Ideal des goldenen Prag liegt plötzlich im wolkenverhangenen, verregneten Inntal (ein goldenes Dacherl gibt es hier ja immerhin), wo die sich schlängelnde Moldau geistige wie tönende Gestalt annimmt. Und das auf die liebenswürdigste, strahlendste und eleganteste Art. Denn die Bamberger Symphoniker, 1946 aus Emigranten der Deutschen Philharmonie in Prag unter Joseph Keilberth gegründet und schnell zu internationalem Ruhm geführt, heute Bayerische Staatsphilharmonie, sie haben schließlich seit einiger Zeit einen tschechischen Chef. Noch dazu einen besonders vielversprechenden, längst von allen großen Orchestern weltweit umschwärmten, der sich trotzdem bis mindestens 2026 nach Bamberg verpflichtet hat: Jakub Hrůša. Und der noch nicht einmal 38-Jährige wollte jetzt, in seiner dritten Saison an der Regnitz, wissen. Bis zum Ende der Spielzeit wird er 13 Mal eben dieses so stolzerfüllte, mythenschwangerere, choralpralle, geschichtsbewusste, blechsatte aber eben auch so himmlisch melodiös danhinschwebende, tänzerisch schwungvolle, melancholisch in sich gekehrte „Mein Vaterland“ aufgeführt haben.
Auf CD gebannt (Tudor) hat man den ominösen Zyklus bereits zu Jakub Hrůšas Amtsantritt in Oberfranken. Doch jetzt wollte er die große Live-Tournee, „damit es richtig im Orchester sitzt, damit wird jeden Abend daran feilen und Spaß haben können“. Gerade ist Halbzeit. Die Elbphilharmonie und andere Orte folgen noch.
Die aktuelle Tour freilich begann gleich mit einem Prager Paukenschlag. Die dort obligatorische „vlast“-Version zum Auftakt des ebenfalls 1946 gestarteten, den politischen Unruhen von 1968 den Namen gebenden Musikfestivals „Prager Frühling“, sie durfte dieses Jahr das einstige Exilantenorchester und seinem tschechischen Chef im Smetana-Saal des jugendstiligen Gemeindehauses spielen. Hochpolitisch also. Mit Rundfunk und Fernsehen, doppelt Besetztem Holz und Blech (plus vier Harfen!) und viel Prominenz.
Ein zu Herzen gehendes, tief emotionales Konzert, wie alle sagen. Wie stets, am Todestag Smetanas, dem 12. Mai. Mehr Komponistenverehrung geht nicht. Im tschechischen TV ist es in der Mediathek noch zu überprüfen. Es war gar nicht hochamtig. Aber auch Jakub Hrůša, der schon einmal den „Frühling“ damit am Pult seiner damaligen Prager Kammerphilharmonie gestartet hat, er war natürlich tief gerührt, wie er bei der Innsbrucker Einführung erzählt. Fast scheinen die kalten Kristalle anzulaufen.
Und auch vorher, bei der kurzen, sachlichen Anspielprobe vor einem ganz besonders schauerlichen, rotverspritzten Rückprospekt auf dem Podium („es passt zwar zu meinem Pullover, aber ist da dem vorherigen Pauker etwas Schlimmes zugestoßen?“, scherzt Hrůša) wird schnell klar: Hier sind Dirigent wie Orchester vollkommen in ihrem Idiom. Da wird nur wenig justiert, eine besonders schön ausschwingende Holzbläser-Stelle in „Vysehrad“ probiert, das Blech in „Sárka“ von der Leine gelassen, was er sich aus dem Sixpack wählt wird nach Lust und Laune entschieden, „um die Spannung zu halten“. Dabei klingt es auch ohne Publikum schon richtig tschechisch groovy.
Was sich dann im anschließenden Konzert bewährt. Es tönt böhmisch in Tirol wie es böhmischer nicht geht. Und das durch viel, nicht-böhmische Musikergenerationen bewahrt. Holzbläserzentriert, mit knackigem Blech und auch mal fiedelnden, meist synchronsatten Streichern. Aber ohne Mehlschwitze, dicke Knödeltunke, Powidl-Übersüße. Das hüpft und swingt, das singt und tönt immer wird leise, leicht, transparent fesselnd, strukturklar. Aber durchaus auch mit der ganzen, blechgepanzert knackigen Armada patriotischer Schwellmuskeln.
Der Zyklus viertelstundenkurzer sinfonischer Dichtungen, mal konkret, mal stimmungszauberhaft, er wölbt sich wirklich mit sinfonischem Bogen, da sind Themen wieder zu erkennen, variieren und mäandern sich durch das Sextett, als fließe die Moldau durch alle davon. Man hört es selten gesammelt und noch seltener so überlege disponiert, so genießerisch ausgekostet und hellwach, so subtil, aber auch laut grollend, wenn die Stromschnellen (die lautetste Stelle!) rauschen, wenn die mittelalterlichen Mann sich sammeln, die Hussiten ihren Choral singen, Landsmutter Libussa auf hohem Felsen winkt oder die Jahreszeiten durch die sprichwörtlich böhmischen Haine und Flure wehen und weben.
Ob in 54 Jahren dabeigewesene Innsbrucker davon ebenso schwärmen werden wie in der Pause drei Greise vom Bamberger Gastspiel unter Keilberth Anno 1965?
Der Beitrag Prag liegt am Inn: Und die Moldau fließt durch Tirol. Denn Jakob Hrůša gastierte mit Smetana und den Bamberger Symphonikern erschien zuerst auf Brugs Klassiker.