Wahnsinn, die wilde Kreativität, die ungebremste Experimentierlust jener Zeit! 1978 ist Pina Bauschs Tanztheater in Wuppertal fünf Jahre und neun Stücke alt – vier davon werden bis heute gespielt. Und jetzt versucht sie sich erstmals an einer Zusammenarbeit dem Bochumer Schauspielhaus, Peter Zadek hat sie eingeladen, hat ihr Vitus Zeplichal, Volker Spengler, die Sängerschauspielerin Sona Cervana und eine junge Frau mit einer Bassstimme, Mechthild Großmann, zur Verfügung gestellt. Fünf Tänzer kommen dazu, darunter Jan Minarik, Dominique Mercy, Vivienne Newport und die ebenfalls junge Josephine Ann Endicott. 41 Jahre später, 27 davon, die das Stück mit dem Bandwurm-Titel „Er nimmt sie an der Hand und führt sie in sein Schloss, die anderen folgen“ nicht mehr zu sehen war, steht Endicott mit dem ebenfalls damals beteiligten Hans Dieter Knebel in der typisch untergehakten Bausch-Verbeugungsreihe. Sie haben das Stück wiedereinstudiert, die Prinzipalin ist nämlich seit zehn Jahren tot.
„Er nimmt sie an der Hand…“ ist anders als die anderen. Hier hat sich die Bausch, bevor sie im selben Jahr in „Café Müller“ und „Kontakthof“ endgültig ihre eigene, bis heute umwerfende Art des Tanztheaters als drastisch geordneten Gefühlschaos und tänzerischer Vivisektion zwischenmenschlicher Zustände fand und ab 1984 jeweils im Mai nur noch eine Produktion pro Jahr vom Kreativstapel ließ, einmal noch stärker als sonst dem Schauspiel genähert: Shakespeares „Macbeth“, der Titel ist das Zitat einer Regieanweisung. Und lange, lange vor Frank Castorfs Dekonstruktionen, Nicolas Stemanns Wiederholungen, Falk Richters Tanzparaphrasen oder Simon Stones Textüberschreibungen hat sie deren Methoden alle schon mal ausprobiert und angerissen. Um sich dann wegzubewegen von den vorgegebenen Inhalten der Klassiker, mit denen sie sich bis dahin vorwiegend auseinandersetzte, hin zu den eigenen, den ihren, längst auch klassisch gewordenen Stoffen.
Beim Bochumer Shakespeare-Kongress wurde diese Versuchsanordnung von den Herren Professoren wüst ausgebuht, ebenso von den damaligen männlichen Tanzgroßkritikern – soweit überhaupt anwesend. Denn hier, in dieser sehr deutschen und doch sehr phantastischen Tanztheaterwelt, gibt es keine Hexen und keine Krieger, kein Schottland dun keinen Nebel. In Rolf Borziks kahler Großbürgervilla zerfleischen sich in der Morgendämmerung zwischen abgeranzten Sesseln und Sofas, Bettgestellen, einem Beichtstuhl, einer Dusche, einem verglasten Schrank und einer Jukebox bloß Männer und Frauen, die vermutlich Schlimmes erlebt haben, aber traumarisiert nicht voneinander lassen können. Dazu läuft ohne Unterlass Wasser aus einem Schlauch über den roten in eine Lache an der Rampe, Ersatz für einen anderen, besonderen Saft.
An der Rampe, die erste Stuhlreihe ist vorsichtigerweise mit Plastikfolie abgedeckt, weil sich Maik Solbach, der jetzt den am ehesten dem an seiner Schuld verzweifelnden Macbeth ähnelnden Mann spielt, sich kurz vor Schluss todesmutig in die Pfütze stürzt, steht eine Absperrkordel mit Messingstangen. Mutet das dreistündige, sauber durch eine Pause nach den ersten 90 Minuten getrennte Geschehen etwa museal an? Mitnichten. Pina Bausch, sie nennt sich hier für „Regie“ zuständig, während Fassbinder-Komponist Peer Raben für die später so typisch gewordenen Collage aus Tangos, „Spiel mir das Lied vom Tod“-Filmmusik, Verdi, Easy Listening und Kinderliedern verantwortlich zeichnet, lässt wenig tanzen. Sie erkundet ihren späteren Stil, nimmt sich ausgerechnet das Ehepaar Macbeth zwischen Blumen und ausgeleerten Spielzeugkisten als einem Friedhof der Kuscheltiere als Kronzeugen ihrer späteren selbstzerstörerischen Duos. Johanna Wokalek, sehr sexy, sehr tanztrainiert, malt sich die Lippen und erzählt als Lady M. (wie in England wird der Namen des verfluchten Stückes nie genannt) von ihren erschrecklichen Mord-Moritaten. Mal im Unterrock, mal in der weißen Glitzerrobe, mal als schwarzer Todeengel, am Ende tropfnass und immer noch seelisch befleckt. Sie reibt sich weiter die Hände, weil der imaginäre Blutfleck nicht abgeht.
Sie alle umtreiben Albträume, die sie sich in den Sesseln wälzen, in die Sofas hechten lässt, manisch, depressiv, dann wieder somnambul. Perfekt wechseln die Aggregatzustände, das Tempo, die Dynamik, die Themen und Szenenfolgen, bis sie endlich mal alle vereint in einer Kinosesselreihe lungern. Hier kann man das gebaute Konstrukt noch als rough cut studieren, später gelingen die Übergänge und Variationen der Bausch-Themen geschmeidiger.
Julie Shanahan und Jonathan Fredrickson sitzen auf einer Liebescouch und massieren sich trostlos, Oleg Stepanov wiederholt immer wieder seinen süßen Solotanz zum blechernen Synthie-Sound aus der Box. Man wechselt die Kleider auf der Bühne, ist aufgedreht und sediert. Vor der Pause gibt es eine dieser typischen Bausch-Diagonalen als extrovertiert verwirbeltes Posing-Defilée. Die meist jungen Akteure, die hysterisch überdrehte Asiatin Tsai-Wei Tien, der bärtige Douglas Letheren, die puppenhafte Stephanie Troyak, die steif auf dem Klavier in der Ecke abgelegt wird und die immer wieder um Tragehilfe bittet, der meist dandyhaft smokingtragende Michael Carter und die zwei Schauspieler, sie machen das fabelhaft, es ist ihr Stück geworden.
So wie auch schon die jungen Tänzer beim Bayerischen Staatsballett sich „1980“ angeeignet haben, vorher die Tänzer des Pariser Opernballetts die mit dem Kanon noch stärker verbundenen Pina-Bausch-Werke „Sacre du Printemps“ und „Orfeo ed Euridice“ zu den ihren gemacht haben. Und auch den Mitgliedern des Dresdner Semperoper Balletts steht zum Ende der Spielzeit Ähnliches mit der Neueinstudierung der frühen „Iphigenie auf Tauris“ von 1974 bevor.
Pina Bauschs Werk lebt weiter. Sie hätte wohlmöglich bei „Sie nahm ihn an der Hand…“ ein wenig gekürzt, zugespitzt, aber auch so erkennt man noch sehr gut die Sprengkraft, die dieses völlig neue dramaturgische Konstrukt einst hatte. Erstmals hat sie hier die Tänzer befragt und die Antworten tanzen lassen, so wie es jetzt Julie Shanahan als anglophile Blondhaar-Domina liebeswürdig selbstironisch vorführt. Und auch wenn man sich bis in die Typographie des Programmhefts retro gibt, das Bühnengeschehen ist sehr heutig.
Und legitimiert unbedingt den Wunsch, der auf unschönste Art geschassten Intendantin Adolphe Binder (bis jetzt hat sie sämtliche Arbeitsprozesse gewonnen, da wird wohl ordentlich Geld von der Stadt Wuppertal plus Kompensation für massive Rufschädigung fällig), nach zwei ersten, spektakulären, abendfüllenden Uraufführungen in der letzten Spielzeit, innezuhalten, sich zu besinnen, mit diesem sehr besonderen, auch sperrigen Stück zurück zu den Wuppertaler Wurzeln zu gehen.
Der Beitrag Die Mama von Castorf, Stone & Co: Pina Bauschs nach 27 Jahren wiederaufgenommene „Macbeth“-Paraphrase erweist ihre Strahlkraft erschien zuerst auf Brugs Klassiker.