„Übermächte sind im Spiel“. So endet der zweite Akt der „Frau ohne Schatten“ im atonalen Krawumm, in einer Orchesterentladung, wie sie sich selbst der robust-lautstärkeaffine Richard Strauss hinterher nie wieder gönnte. Und ein besseres Stück hätte man nach der Entlarvung Österreichs als auch politischer Operettenrepublik zur davon naturgemäß nur leicht überschatteten Feier zum 150. Jubiläum der Wiener Staatsoper eigentlich kaum finden können. Zumal auch der 100. Jahrestag der Uraufführung dieses seltsamen Musiktheaterdinosauriers anstand. Schon damals, 1919, nach Kriegsniederlage, Dynastie- wie Landverlust und Elend, als die ewig imperiale Staatsoper aus der kakanischen Ringstraßen-Belle-Etage politisch in die Färberhaus-Vorstadtniederungen der bis heute andauernden Operettenrepublik hinabgesunken war, fand sich das monströse Musikding eigentlich ganz passend zur Stelle. Der weltschmerzende Hugo von Hofmannsthal konnte als Librettist einmal mehr in die dünne Kunstmärchenatmosphäre der „südöstlichen Inseln“ ein- und aus dem aktuellen Übel abtauchen. Und der Richard, der durfte hier stundenlang, blechgepanzert und streicherkunsthonigseimsabbernd so richtig die Strauss-Sau rauslassen. Was er mit Wonne und Können, ja sogar mit einem expressiv schroffen Wagemut tat, der ihn danach leider verlassen hat. Und dem Haus am Ring bescherte das kuriose Duo aus silbenschmackigem Ästheten und bayerischem Tondreschflegel einen seiner wenigen Uraufführungen von Bedeutung.
Was aber auch passt. Denn schon 1869 zog man aus dem Kärtnertortheater (wo heute das Hotel Sacher steht) einen Häuserblock weiter an die neue Ringstraße eher der Repräsentation denn der Erneuerung der Gattung wegen. Die Wiener Staatsoper war und ist ein Hort des Bewahrens, der Tradition. Revolutionen gehen von anderswo aus, hier gefällt man sich als mal besseres, mal staubiges Museum des wohlmöglich fragwürdig gewordenen Repertoiretheaters mit weltweit konkurrenzlosen 58 Titeln (plus Balletten) im Jahresspielplan – und möglichst keinen Regieexperimenten. So wie jetzt, wo ausgerechnet für dieses komplexe, gerade in Wien besonders gern gekürzte und verunstaltete Unikum, das zuletzt 1999 in einer klugen, sogar beim Publikum akzeptierten Robert-Carsen-Produktion herauskam, wieder mal ein totaler No-Name erwählt wurde.
Vincent Huguet stand Patrice Chéreau nahe und betreute als Assistent seine beiden letzten Operninszenierungen. Er selbst hat bisher nur ein einzige herkömmliche Oper herausgebracht, „Lakmé“ in Montpellier. Und so war diese verschwurbelte Hohelied auf Mutterschaft und Fruchtbarkeit, womit die Autoren vielleicht nach dem Blutzoll, die der Weltkrieg unter der jungen Generation gefordert hat, an die Weiterexistenz der Menschheit appellieren wollten, das aber jeder modernen Frau schon rein textlich Migräne bereiten muss, nun in Wien als in keinster Weise hinterfragte Interpretation die Bankrotterklärung einer Inszenierung. Und noch nicht einmal zu einem exotisch bunten Bilderbogen langte es. An der Berliner Staatsoper soll Huguet nächste Saison einen neuen Mozart/da Ponte-Zyklus starten. Bisher hat er zum Glück nur einen „Così fan tutte“-Vertrag.
Ausstatter, die besser ungenannt bleiben, behängten das frohgemut mit dem Armen rudernde Singpersonal mit mal blauen, mal roten, grauen oder schwarzen, in der Regel unkleidsamen, rein gar nichts bedeutenden Lappen. Arrangiert wurde alles rampennah nichtssagend vor sich türmenden Felsen, die entweder als Dauerwerbung für Oper im Steinbruch St. Margareten durchgehen, oder endlich belegen, dass der ominöse Kaiserinnenvater und Geisterkönig Keikobad in Wirklichkeit Styroporfabrikant ist. Dazu gab es noch einen windschiefen Pavillon, einen (Achtung, Regie-Idee!) offenbar als „Walküren“-Reminiszenz zwischen toten Helden auf der Walstatt jagenden Kaiser, viele schwarze Vorhänge für die völlig unspektakulären Szenenwechsel und im banalen C-Dur-Jubelfinale embryonale Lichterketten mit den „Stimmen der Ungeborenen“. Schließlich wirbelten Spektralpunkte, die selbst die 91-jährige Frau Kammersängerin Christa Ludwig – eine der berühmtesten Färberinnen überhaupt – darüber nachgrübeln ließen, ob das wohlmöglich „kosmisches Sperma“ sein könnte.
Sei es drum, viereineinhalb Stunden passierte auf einer dunklen, vollgestellten Bühne bis auf die Erscheinung eine nackten Statistenjünglings, der sich gleich leblos daniedersetzte, rein gar nichts – und das in denkbar hässlichstem Ambiente. Wien, bleibt eben Wien, Augen zu und musikalisch durch. Im Graben waltete wieder mal Christian Thielemann. Mit den Philharmonikern hatte er 2011 in Salzburg einen exemplarisch modernen, gehärteten unsentimentalen Strauss-„FroSch“ dirigiert. Jetzt gerieten ihm die Tempi eher gefährlich breit, man delektierte sich allzu sehr am süffigen Sound. Erst zum Ende des zweiten Aktes kamen nicht nur die „Übermächte“, sondern auch ein schnittiger Drive und kantiger Klang ins übersüßliche Spiel, für das im dritten Finale sogar die Glasharmonika aufgeboten wurde. Mit 65 Minuten Spielzeit war dies vermutlich der vollständigste dritte Akt überhaupt.
Was der hier aufgefächerten vorfreudianischen Paartherapie und ihren szenischen wie inhaltlichen Zumutungen, inklusive Geigensolo, Melodram und fötalem Jubelchor auch nicht zugute kam. Aber insbesondere durch die vielen geöffneten Striche die herausragend sopranlichte Kaiserin von Camilla Nylund und die als schartige Mezzoscherbe grandios klirrende Amme der leider tiefendünnen Evelyn Herlitzius nobilitierte. Über sein Rollenzenit hinaus, aber mit sattelsicheren Stentortönen prunkend stand Stephen Gould den undankbar-uninteressanten Kaiser noch stoischer aus als sonst. Und der vokal üppiger und feinrunder gewordene Wolfgang Koch war ein rolleneckend tumber Barack mit speckigem Fetthaar. Sehr menschlich anrührend die Debütantin Nina Stemme als Färberin, ohne jede Keifattacke, ratlos in ihrer verletzten Liebessuche. Nur ein wenig mehr legatogebunden könnte sie ihre warm flutenden, im Stimmkeller wohligen Töne singen. Aus den Restrollen ragte Samuel Hasselhorn als baritonklarer einäugiger Barak-Bruder heraus.
Für ein solches Ereignis war der Applaus letztlich schnell endenwollend. Strauss-Ekstasen und Mutterschutz-Paroxysmus haben an der Wiener Staatsoper schon ganz anders geklungen.
Der Beitrag Wien bleibt Wien: „Die Frau ohne Schatten“ zum 150. Staatsopernjubiläum als szenischer Flop und musikalisches Top-Ereignis erschien zuerst auf Brugs Klassiker.