Nix war es bisher mit Jacques Offenbach in Wien zum 200. Geburtstag, immerhin seine zu Lebenszeiten zweitbedeutendste Wirkungsstätte: wo ihn schon Nestroy parodierte, Marie Geistinger charmierte und überhaupt meist eigens opulentere Orchestrierungen für seine Erfolgsstücke von der Seine angefertigt wurden, weil an der Donau mehr Musiker in größeren Gräben verfügbar waren als im strikter durchkommerzialisierten Pariser Musikbetrieb. Tempi passati. Immerhin künden noch einige der deutschen Gesamtaufnahmen bei EMI/Warner (jetzt günstig in der Box) davon. Aber was im Jahr 2019 von den nicht eben armen Wiener Musikbetrieben in Sachen Jacques O. angeboten wurde, das grenzt schon an Ignoranz. Nichts an der Staatsoper, wo ein Franzose regiert, kein Ton im Neujahrskonzert, eine Wiederaufnahme- udn eine Übernahme an der Volksoper, eine Schrumpelexperiment um „Hoffmann“ auf der Studiobühne des Theaters an der Wien. Dürftig, dürftig. Immerhin, das ORF Radio-Symphonieorchester Wien hatte dann doch, kurz vor 20.-Juni-Toreschluss, noch ein schönes Bonbon im Konzertkörbchen: Als österreichische Erstaufführung gab es die 35-minütige Ballettmusik „Le Royaume de Neptune“, die für die letzte Fassung von „Orpheus in der Unterwelt“ 1874 angefertigt worden war. Der unermüdliche Offenbach-Trüffelsucher Jean-Christophe Keck hatte die verschwundenen Noten wieder mal einem widerspenstigen, seinen Nachlassteil hortenden Verwandten abgeluchst. Solches kam nun, fast wie in einem typischen Konzertprogramm des 19. Jahrhunderts, im Goldenen Musikvereinsaal neuerlich zu Ehren; statt Neptun im feuchten Unterwasserreich schwang sehr gekonnt Johannes Debus das Zepter respektive den Stab. Dazu gab es, ebenfalls eine Erstaufführung, keinen geringeren als Daniil Trifonov mit seinem auf die eigenen virtuosen Hände zugeschnittenen, viel Effekt machenden Klavierkonzert (2014). Das ist ganz im Stil von Tschaikowsky und Rachmaninow gehalten, mit ein paar Skrjabin- und Impressionismus-Einsprengseln. Das aber sehr gekonnt, unterhaltsam, 25 Minuten knapp und grandios gespielt. Als hochseriöser Beitrag wurde abschließend Henri Dutilleux’ „Metaboles“ kredenzt, und zum Auftakt erklang die Offenbach-Ouvertüre zu den „Rheinnixen“.
Die hat natürlich auch Wien-Bezug, war das schließlich, noch lange vor dem „Hoffmann“, der erste Versuch mit einer zwar französischen, aber bei der Uraufführung 1864 im Wiener Kärntnertortheater (die Staatsoper öffnete erst fünf Jahre später ihre Pforten) deutsch gegebenen, großen und ernsten Oper. Die war bekanntlich ein Misserfolg, aber jenes, das Vorspiel eröffnende und beschließende, zart schwingende Thema wurde später, in den „Hoffmann“ gerettet, als Barcarole zum größten Offenbach-Welthit – neben dem „Orphée“-Galopp, der immer als Cancan vermarktet wird. Und natürlich kümmern sich um diese durchaus lohnenden „Fées du Rhin“ nur kleine Bühnen wie Ljubljana, Trier, Biel oder Tours, wo das Werk doch unbedingt mal an ein großes Haus gehören würde.
Nach dem Siebzigerkrieg sah es böse aus um Offenbachs schwindenden Erfolg als Deutscher im Pariser Feindesland, zudem war die Spaßgesellschaft des zweiten Kaiserreichs versunken wie Neptun im Meer. Also peppte der clevere Unternehmer seine alten Erfolge auf, man spielte nämlich jetzt Opéra-féerie-Fassungen: Alles musste opulenter, länger, blinkiger und oft auch ein wenig nackter werden. Meist wurden die Werke aber auch statischer, ganze Revuebilder dienten nur dazu, Ausstattungsaufwand und möglichst viel unbedecktes Tänzerinnenfleisch vorzuführen.
Also durfte in der jetzt fünfaktigen „Orpheus“-Version im Mittelteil Euridice mit Jupiter zu Neptun reisen, und der präsentiert sich als Herrscher nicht nur über Fische und Nixen, sondern auch über das sagenhafte Atlantis. „L’Atlantide“ hieß diese 11-ziffrige Nummernfolge zunächst, die der pragmatische Offenbach später zum Teil wiederverwertete – so wie etwa ein feines Hörnersolo in „Le Voyage de la Lune“, das später von fremder Hand auch als „Spiegelarie“ (obwohl es um einen Diamanten geht) des Dapertutto in den „Hoffmann“ integriert wurde.
Dieses feuchtfröhliche Divertissement ist weder schlüpfrig-glitschig, noch eine öde Nasszelle, sondern eine schwungvoller Strauß mitreisender Tänze, das jedem Neujahrskonzert Ehre machen würde, mit Varianz, Eleganz und Einfallsreichtum. Man kann es sich gut auch als Ersatz für die Manuel-Rosenthal-Bearbeitung der „Gaîté Parisienne“ als eigenständige Offenbach-Tanzsuite auf der Ballettbühne vorstellen. Da wedeln die Fische, scharwenzeln die Oktopusse und trippeln die Hummer, die Seehunde grunzen und die Kröten watscheln, das ist spritzig, blubbert und schlägt schönste Melodiewellen. Es gibt Märsche, einen weitausufernden Walzer, eine freche Polka, und ein gewaltiges Gewitter gleich zu Anfang (samt Cellosolo), bis sich des Meeres und des Klimas Wellen wieder glätten. Klarinetten schimmern, Flöten funkeln, Geigen oszillieren, der Rhythmus hüpft, die Dynamik gischtet, es galoppiert in Formation und baut sich zum lebenden Klangbild auf. Eine Perle steigt auf, und überhaupt erinnert das, nur viel feuchtfröhlicher, an ein ganz anderes Wasserballett, nämlich „La Pelegrina“ aus Verdis „Don Carlos“; natürlich auch meist in der Oper gestrichen, aber immerhin von George Balanchine choreografiert.
Um das dem einen oder anderen Tanzschöpfer wenigsten hörbar schmackhaft zu machen, wird es immerhin, neben der ORF-Radioaufzeichnung, noch dieses Jahr eine CD mit dem „Reich des Neptun“ geben. Howard Griffiths hat es mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin im Studio für cpo eingespielt. Zusammen mit weiteren Tanznummern wird es als „Offenbach dansé“ veröffentlich werden. Und schon jetzt zu empfehlen.
Der Beitrag Hier tanzen nicht nur die Fische: als Wiener Geburtstagsgeschenk wurde vom RSO das „Orpheus“-Ballett „Im Reich des Neptun“ erstaufgeführt erschien zuerst auf Brugs Klassiker.