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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Hummeln im Kopf: Dmitri Tcherniakov beendet seine Trilogie der Therapie in Brüssel mit Rimsky-Korsakows „Zar Saltan“

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Birkenstocks, braune Hängehose, graues Schlabbershirt, in sich gekehrter Looser Look. Nie war in der Operninszenierungsgeschichte ein Prinz weniger prinzlich. Der hier, vor dem güldenen eisernen Vorhang des Brüssler Théâtre de la Monnaie, ist eigentlich auch gar keiner, nur ein trauriger Junge, der autistisch geworden ist, weil seine Mutter von seinem Vater sitzen gelassen wurde und ihn allein aufziehen musste. „Er spricht nicht“, erzählt diese, ebenfalls unauffällig gekleidet, auf Russisch. Der Junge aber verkriecht sich zwischen nüchternen Stühlen bei seinen Spielsachen, einem Eichhörnchen, der Schwanenprinzessin, einer silbrigen Soldatenarmee. Und dann hebt endlich die Musik an, stürmisch, fröhlich, fanfarenstark und märchenhaft – auf das Schönste, Liebevollste zum Leuchten und sich Entfalten gebracht vom Monnaie-Musikchef Alain Altinoglu. Es ist schon seine zweite Oper von Nikolai Rimsky-Korsakow, die er hier dirigiert. Nach dem „Goldenen Hahn“ als perfide-pompöse Machtparodie in der inzwischen auch als DVD erhältlichen Inszenierung von Laurent Pelly wirkt nun Dmitri Tcherniakov sein partner in opera crime. Und der ist ja berühmt für seine Agenda, dem Westen die von ihm so geliebten, hier oft verschmähten russischen Opern in neuer, zeitgenössischer Sichtweise nahezubringen – ohne freilich gleich ganz auf den liegegewonnenen östlichen Folklorezauber zumindest als Zitat zu verzichten. Und so war jetzt Rimskys früher mal, vor allem in Ostdeutschland als zurechtgekürztes Weihnachtsmärchen beliebtes, sogar von Harry Kupfer in den Neunzigern an der Komischen Oper herausgebrachtes Musiktheater mit dem Bandwurmtitel dran: „Die Geschichte vom Zaren Saltan, seinem Sohn, dem berühmten und mächtigen Recken Prinz Gvidon und von der schönen Schwanenprinzessin“. Terchniakov scheint damit zudem ein weiteres, ihn diese Spielzeit beschäftigendes Projekt abgeschlossen zu haben: eine Art „Trilogie der Therapie“, die nach mittelguten Ergebnissen mit Pariser „Les Troyens“ im Rehazentrum Karthago und einer Selbsthilfegruppe für Musiktheatersüchtige an der Berliner Lindenoper, die sich dank Prokofiews „Verlobung im Kloster“ optimieren, nun ein großartig und originell funktionierendes Finale in Belgien fand. Und die den gelernten Architekten, der ja immer sein eigener Bühnenbilder ist, als fantasievollen Zeichner offenbarten.

Dieses auf Alexander Puschkin zurückgehende Kunstmärchen ist in Russland dank vieler klassischer Illustrationen und Zeichentrickfilme populär. Obwohl es ziemlich böse daherkommt. Der Zar lässt sich von zwei leer ausgegangen Brautwerberinnen und einer bösen Alten dazu hinreißen, seine Frau und seinen angeblich monsterhaften, von ihm nie gesehenen Sohn in einem Fass im Meer auszusetzen. Der im Gegensatz zu ihm barmherzige Zarewitsch aber überlebt, wird zum Herrscher einer fremden Stadt und bekommt die sagenhafte Schwanenprinzessin. Am Ende ist er sogar mit dem reuigen Vater wieder vereint.

So naiv kann Dmitri Tcherniakov das nicht stehen lassen. Zumal auch Rimsky-Kosakow in der 1900 uraufgeführten zehnten seiner 15 Opern durchaus satirisch abgefeimt die Hofschranzen und den zunächst seltsam gefühlskalten Zaren porträtiert, ja karikiert. Popanze und Puppen scheinen das, und so zeigen sie sich nun auch, dick wattierte, fast über ihre bombastisch historischen Gewandungen (von Elena Zytseva) durch die Zuschauerraumtüren stolpernden Gestalten: Ausgeburten der Fantasie Gvidons freilich, hervorgerufen durch die Märchenerzählung, mit deren Hilfe seine Mutter (sopranklar: Svetlana Aksenova) dem mental abgetauchten Sohn sein wahres Schicksal veranschaulichen will.

Und der geht darauf ein. Erst bevölkern die bunten, kreischenden Popanze nur die schmale Spielfläche. Die aber weitet sich, zunächst als fein gestrichelte Animationszeichnungen auf einer Nesselgardine, die das eben noch real dastehende Fass nun als wild bewegten Film mit Wellen, Monsterfischen und Seesturm zu einem der vielen, durch die Oper reizvoll, aber bisweilen ohne dramaturgische Notwendigkeit mäandernden Zwischenspielen ablaufen lassen. Dahinter tut sich eine farblose Höhle auf, die freilich durch reale Personenprodukte der Zarewitsch-Fantasie bevölkert werden: die passiv dahingestreckte, aber malerisch und zauberhaft koloraturzwitschernde Schwanenprinzessin (Olga Kulchynska), die sagenhaft animierte Zwiebelturmstadt Ledenetz, der dicksäulige Zarenpalast, alles all immer buntere, perspektivenreichere Zeichenlandschaften, die durch den sowieso schon güldenkitischigen Monnaie-Theatersaal als ganz und gar modernen Bühnenzauber projiziert werden.

Das ist so überraschungsvoll wie brillant gemacht, und hilft genialisch über die erzählerischen Durststrecken der vielen, freilich herrlich orchestertönenden Rimsky-Bilder, deren Schöpfer sich lieber in seinen gleißend bunt instrumentierenden Klängen gefällt als die Geschichte voranzutreiben. Russische Ästhetik eben, mit Einlagelballaden, Wiegenliedern, sinfonischen Tableaus, die Tcherniakov gekonnt mit westlich psychologisiertem Erzählen verbindet, weil da immer wieder Gvidon zuckt und sich den Kopf hält, auch die Visionen und Filme immer wieder stoppen, als ob er Aussetzer in seinem Kopf hat. Der sich immer mehr mit Hummeln füllt, schließlich ist doch der Flug des borstigen Stachelviehs alias des verwandelten Prinzen, der seine biestige Verwandtschaft sticht, das berühmteste Stück der zauberhaften Partitur. In das es freilich fein eingewoben ist; hört man es im Konzertsaal als Virtuosennummer, dann immer nur als Bearbeitung der eingängig brummelnden Melodie.

Ein spielfreudige, prachtstimmiges Ensemble trägt neben dem souveränen Alain Altinoglu diese so ungewöhnliche wie eigenwillige Tcherniakov-Deutung: Ante Jerkunica als orgelnder Zar, der schließlich als realer Vater im blauen Anzug zunächst unwillig zu seinem geistig davongedriffteten Sohn zurückkehrt; Stine Marie Fischer, Bernarda Bobro und Carole Wilson als fieses, mieses Schrapnellen-Trio; Vasily Gorshkov als Narr; vor allem aber der präsente, präzise mit hellem Tenor singende, sein Schicksal bannend beglaubigende Bogdan Volkov als Gvidon.

Und obwohl selbst die Schwanenprinzessin als reales Mädchen im rosa Kleid sich um ihn bemüht, alle guten Willens sind – anders als in der am Ende triumphsingenden Oper geht es bei Tcherniakovs dysfunktionaler Familie nicht märchenhaft aus: Gvidon ist das alles zu viel plötzliche Nähe und Zudringlichkeit. Er zieht sich am Boden gekrümmt in das Schneckenhaus seiner wieder bilderlosen Einsamkeit zurück. Diese Operntherapie hat nicht eingeschlagen. Und wir sind schon gespannt, was sich Dmitri Tcherniakov in der nächsten Spielzeit zu Janaceks „Makropoulos“ (Zürich), wieder Rimsky – „Sadko“ als Rückkehr an das Bolshoi Theater – und „Elektra“ (Hamburg) einfallen lassen wird.

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