Glanz und Elend des deutschen Stadttheaters: Aufwändige Produktionen können nicht allzu lange im Repertoire gehalten werden, auch weil das Publikum dann „durch“ ist. So auch in Nürnberg, obwohl seit einigen Jahren Staatstheater. Dort hat das neue Leitungsteam Jens-Daniel Herzog und Joana Mallwitz zum Auftakt ihrer ersten, eben zu Ende gehenden Saison Prokofiews in Deutschland äußerst selten gespieltes, sowjetpropagandistisch durchwirktes Schmerzenskind „Krieg und Frieden“ als Ensembleepos mit Ansage auf die Bühne gewuchtet. Und rasch wieder abgewickelt. Weil das ungewöhnliche, auch aufwändige Unternehmen aber ein großer Erfolg wurde, gelang es, noch mal eine Vorstellung zur Jahrestagung des Deutschen Bühnenvereins anzusetzen. Nach einem halben Jahr Repertoirepause, mit nur wenigen Proben. Respekt! Das Nachsitzen hat sich gelohnt. Das klang toll, knallig, wenn es musste, zärtlich und melancholisch, wenn es durfte. Und immer machte sich da dieser typische Prokofiew-Ton breit, trocken, sachlich, sarkastisch, auch mal lärmig vulgär, alle Stile des 20. Jahrhunderts amalgamierend und doch ein eigenes Idiom treffend. Und genau den traf die GMDeuse Joan Mallwitz mit fast schlachtenfüherinnenhafter Akkuratesse, Weitsicht und Souveränität Alles im Griff! Der fast dreieinhalbstündige (und trotzdem eingestrichene) Abend ist der glänzende Sieg der Mallwitz samt ihrer motivierten Orchestertruppe angesichts Napoleons Niederlage im brennenden Moskau. Und auch Herzog nimmt ein mit seiner knappen, sarkastischen, immer politischen Sichtweise.
Da zieht schon zur kraftvoll furchig genommenen Ouvertüre Soldat Platon (Martin Platz), einer der wenigen, der hier geistig den Durchblick hat, die im Einkaufswagen zusammengerollten Fahnen Russlands auf, die heutige, die sowjetische, die revolutionäre, die zaristische – alles eins vor dem rollenden Rad der Geschichte. Mathis Neidhardt hat wieder mal eines seiner klaustrophobischen Labyrinthe gebaut, schwarze Türen und Wände, klapppen weg, fallen um, werden durchbrochen. Das macht einigen Knalleffekt und ist doch schnell wie praktisch. Ein paar Kornleuchter und eine Ahnengalerie von Katharina der Großen bis Solschenizyn, Tschaikowsky bis Gorbatschow markiert die Adelspaläste, ein paar Podeste und eine sich herabsenkende Lautsprechersäule die Kriegsorte. Birken sind nur Natur im Schaufenster, am Ende stirbt die Liebe und das Leben zwischen Natascha und Fürst Andrej auf einem eisernen Krankenbett, während das die Nazis überwunden habende russische Volk stolz und hymnensingend an die Rampe marschiert.
Die Regie denkt immer die ganze russische Geschichte mit, da huscht Putin durchs Bild und Napoleons Lagerszene kommt als Parodie von Marschall Kutusows Soldaten daher. Licht und Rauch dienen als oft einzige atmosphärische Verdichtung. Und wie bei Dmitri Tcherniakov setzten Übertitel einen sarkastischen Grundton in den einzelnen Szenen, etwa wenn die von Sibylle Gädeke in vulgären Oligarchen-Blingbling gekleidete Oberschicht zur Botox-Party mit Tolstoi und Prokofiew lädt. Und am Ende klaut der der Sieger Denissow auch einfach nur die Plünderwaren der Franzosen.
20 Solisten verbeugen sich am Schluss vor dem anhaltend jubelnden Publikum. Es seien nur die sehnsuchtsvoll-intensive Eleonore Marguerre (Natascha), der standhaft stattliche Jochen Kupfer (Andrej), der zweifelnd-zaudernde Zurab Zurabishvili (Pierre) und der pompöse Sangmin Lee (Napoleon) herausgegriffen. Eine Musiktheater-Großtat, fürwahr. Und eine faszinierend vielschichtige, Geschichte des 19. wie des 20. Jahrhunderts eindrücklich widerspiegelnde Oper, die weit mehr ist als nur ein Sowjetmachwerk, wie so gern verkürzt. Und die endlich mal wieder auch einer Berliner Opernbühne gut anstünde….
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