Eben war es noch der „Polifemo“ von Nicola Porpora, der als geschickte Mythenklittung von Acis, Galatea und Zyklopen sowie Odysseus und Calipso bei den Salzburger Pfingstfestspielen Augen wie Ohren erfreute. Und gleich ging es weiter mit demselben Stoff, aber in anderer Anwandlung, und 33 Jahre alte. Bei den den „Musen“ gewidmeten Musikfestspielen Potsdam zeigte und dirigierte die neue Chefin Dorothee Oberlinger (beinahe) ganz blockflötenfrei die 1702 in Schloss Litzenburg, dem späteren Charlottenburg, Lustschloss der preußischen Königin Sophie Charlotte uraufgeführte Pastorale von Giovanni Bononcini. Der hatte, wegen des Spanischen Erbfolgekrieges als Hofkomponist am Habsburgerhof in Wien kurzgehalten, mal eben im immer kunstklammen Berlin angeheuert. Wie der 100-Minüter nun wirklich hieß, weiß man nicht mehr, aber unterhaltsam und reichlich virtuos ist er; trotzdem gab es noch einen musenreichen Prolog von Alessandro Scarlatti und – ganz dem barocken Zeitgeschmack entsprechend – ein als Violinkonzert verkleidetes Händel-Divertimento vor der Pause. Das alles fand wieder im italienisch in den Sommerabend leuchtenden Orangerieschloss statt. Und war in seiner historisch korrekten Inszenierungsanmutung etwas trutschig geraten; da hatte man in den letzten Jahren beim hier stets sehr feinen Opernraritätensammeln schon gewitztere Produktionen zu sehen bekommen.
Nun klappert aber auch schon die Librettovorlage gewaltig, die der Berliner Hofmusikus Attilio Ariosti kollegial nach Motiven aus Ovids „Metamorphosen“ gezimmert hat. Diesmal haben auch noch der Fischer Glauco und die zwischenzeitlich in ein Monster verwandelte Nymphe Silla ungebührlich viel Singzeit. Und die Zauberin Circe, die mal was mit Odysseus hatte, trägt zwar Iunos Pfauenfedern, aber legt magisch wie vokal furios los. Polifemo, hier ein tuntiges, aber bassingendes Riesenbaby mit blauer Schleife in den Perückenlocken, kommt spät und wirft noch später eifersüchtig seinen Felsbrocken auf Acis. Denn beide sind in die ziemlich matronenhafte Galatea verliebt. Dazu wackeln die Stoffkulissengassen, in denen Margit Legler reichlich hilflos nach alten Gestenmusterbüchern arrangiert, bis zum versöhnlichen Ende eine sehr angezogene Frau Venus (jugendfrisch: Maria Ladurner) stoffreich auf einer Muschel hereinruckelt.
Das soll komisch sein, ist aber meist nur albern, nicht wirklich durchdacht und gestellt. Eine auf halben Weg steckengebliebene Rekonstruktion ohne Raffinesse, der aber dann auch der ehrlich parodistische Witz fehlt. So ist manches lustig, die aus Lauchstädt geliehenen Drehwellen, der Abgang ins Wasser, das Monster mit den Krallenhandschuhen, die nach Zierdeckchen aussehenden Kostüme, und einiges eben auch nicht. Vor allem dauert es viel zu lang, bis die Sache auf Touren kommt. Und am Ende ist dann chorklar, dass der Schmetterling nicht der Flamme zu nahe kommen darf: „Er wird den Schmerz finden, weil er die Lust sucht“, singt man.
Die hübsche, differenziert rhythmisierte Musik mit ihren gefälligen Melodien in 20 mal kurzen, mal sehr ausufernden Nummern ist bei Dorothee Oberlinger und ihrem kraftvoll bunt aufspielenden Ensemble 1700 in besten Händen. Freilich lässt sie die Sänger meist machen, die ganze Aufmerksamkeit gilt den virtuosen Instrumentalisten. Hoch ist das Niveau, wie stets in Potsdam, beim Vokalpersonal. Roberta Invernizzi gurgelt grandios die Galatea, jugendlich flexibler hauen Roberta Mameli (Silla) und Liliya Gaysina (Circe) ihre Fiorituren ins Auditorium zwischen den beiden ionischen Sandsteinsäulen. Helen Esker ist ein burschikoser Glaukos und João Fernandes ein bassdoofer Poliphem. Doch als die Überraschung des Abends empfiehlt sich der glockenhell wie geschmeidig intonierende brasilianischen Sopranist Bruno de Sà (Arcis), von dem sicher noch Einiges zu hören sein wird.
Als Motto für die Festspiele 2020 hat Dorothee Oberlinger bereits wieder Bildhaftes ausgegeben: „Flower Power“. Denn eins gilt sowieso: als Gesamtpaket aus Schlossambiente, seltener Oper und sanfter Sommernacht ist und bleibt Potsdam magisch!
Der Beitrag Der Brocken fliegt arg spät: Zu Dorothee Oberlingers ersten Musikfestspielen Potsdam dirigiert die Chefin Bononcinis Pastorale „Polifemo“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.