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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Der Himmel kann warten: Wiedergeburt eines Meisterwerks – das Theater Osnabrück stemmt grandios Albéric Magnards „Guercœur“, erstmals und 88 Jahre nach der Uraufführung

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Hingehen, hingehen, hingehen! Zur Albéric Magnard und seinem klangklaren Dreiakter „Guercœur“. Jeder, der sich für Oper interessiert, sollte dieses Meisterwerk gehört und gesehen haben. Es ist live und auf einer Bühne die erste Gelegenheit seit 88 Jahren. Obwohl seit 1990 eine herausragende EMI-Gesamtaufnahme unter Michel Plasson mit José van Dam, Gary Lakes, Hildegard Behrens und Nadine Denize existiert, hat sich kein Intendant oder Dramaturg für diese grandiose Musik, für diese utopische, eskapistische, aber leider auch sehr aktuelle, obwohl um 1900 komponierte Geschichte interessiert. Man kann und will es gar nicht glauben! „Guercœur“ ist schön, tiefsinnig, schräg, bewegend, originell und süchtigmachend. So wie Oper eben im Idealfall sein sollte. Und mehr noch, so hätte wohl ein Musiktheater beschaffen sein können, wenn Gustav Mahler die Zeit und den Mut dafür gefunden hätte – obwohl man Magnard (1865-1914) gern den französischen Bruckner nennt. Jetzt muss man nur zum Theater Osnabrück fahren, bald und schnell, am 23. oder 26. Juni sowie am 2. und 5. Juli. Oder man hört sich am 22. Juni auf Deutschlandradio die Premierenaufzeichnung an.

Fotos: Jörg Landsberg

Ein seltsamer Kauz, dieser Lucien Denis Gabriel Albéric Magnard, Sohn des „Figaro“-Herausgeber und der Tochter eines Kunstblumenfabrikanten. Reich und unabhängig, Schüler von Jules Massenet und Vincent d’Indy. Im französischen Musikbetrieb konnte er nie landen, also verlegte er verbittert und vereinsamt seine wenigen Werke selbst. Und von denen ging ein Großteil, auch die Akte Eins und Drei des lediglich konzertant in Teilen mal gegeben „Guercœur“ in Flammen auf als deutsche Soldaten sein an der Frontlinie gelegenes Landhaus in Brand setzten – als Rache dafür dass er selbst einen Deutschen erschossen hatte. Auch Magnard kam dabei ums Leben. Frankreich feiert ihn als Kriegsheld. Das war es dann aber schon mit Kränzewinden.

Ein Vertrauter rekonstruierte die Partitur, 1931 brachte die Pariser Opéra das Werk heraus, schließlich aber fiel es mit den beiden anderen Opern, den vier Sinfonien und ein paar kleineren Kompositionen dem Vergessen anheim. Völlig unverständlicherweise.

Dunkel. Drei Lichtkreise. Köpfe. Mehr zeigt Dirk Schmeding samt seinem kongenialen Ausstatter- und Videoteam ins einer so klugen, modernen, sachlichen du vor allem minimalistisch direkten Inszenierung den ganzen erste Akt über nicht. Das langt auch, wir sind schließlich im Jenseits. Einem nichtchristlichen, säkularen. Die Musik glüht dunkel und sehrend, kommt choralhaft fett, aber souverän schlank geführt von Andreas Hotz. Guercœur, der sein Land aus einer Diktatur in eine Republik geführt hat, ist tot. Irgendwie ist er aber noch nicht mit der Welt fertigt. Er bittet und barmt, der famos heldenhafte Bariton Rhys Jenkins macht das mit profund gerundeter Stimme. Sein Ansinnen wird von den Fernchören zwar in Frage gestellt, aber von vier Damen, dem Wahren, Guten und Schönen, man hat sie sich unter Führung des Leidens als freundlicher gestimmte, graubehaarte wie -bewimperte Nornen in schwarzen Abendroben vorzustellen, befürwortet. Wie in einem mittelalterlichen Mysterienspiel.

Ein runder Tisch fungiert im zweiten Akt als Grab, aus dem der auf Erden zurückkehrende Guercœur auftaucht. Er schüttelt zwischen den ewigen Lichten die Krume ab – Schmeding bemüht sich zwischen all dem Pathos und Ewigkeitsgetue erfolgreich um ein wenig Komik –, dann geht es weiter ins ebenfalls hier platzierte, vormals eheliche Schlafzimmer. Dort freilich vergnügt sich zwischen bunter Blütenbettwäsche – es sind zwei Jahre vergangen – sehr sinnlich fleischlich seine Witwe Giselle (mit voluminös, sicherem, üppig aufscheinendem Sopran: Susann Vent-Wunderlich) mit Guercœurs Schüler Heurtal (schneidend fieß passender Tenor: Costa Latsos). Der ist sein Nachfolger geworden, in jeder Hinsicht. Doch da  ist nicht nur einer zu viel im Bett, Heurtal will das hungernde Wahlvolk, das ihn am Ende trumpgleich ekstatisch hochleben lässt, in einer neuen Alleinherrschaft unterjochen und mundtot machen. Guercœur warnt, wird nicht erkannt und von den Konfetti werfenden fanatischen Fans entsorgt – wieder mit letalem Ausgang.

Das ist toll komponiert und inszeniert, da stimmt jede Geste und jeder Ton. Diese Figuren sind total glaubhaft, in ihrem Sehnen und Wollen, obwohl ein von den Toten Erweckter mit im Opernspiel ist. Magnard, in der Dreyfus-Affäre auf dessen Seite, gelingt in seinem eigenen Libretto eine klarsichtige Analyse politischer Verhältnisse und Verführbarkeiten, er wechselt unschwer zwischen Mittelalter, Dritter Republik und Gegenwart. Obwohl Utopien beschworen werden, ist ihr Scheitern realistisch auserzählt. Und mit einer wunderhellen Musik verbrämt, die ihren Berlioz und César Franck kennt, die im Melos eines Massenets zu blühen versteht und Mahlerschen Weltschmerz atmet, Wagners Motivtechnik verinnerlicht hat, in der Szene der Eheleute immer wieder Strauss’ „Frau ohne Schatten“ ahnen lässt – und dabei doch originell und eigen bleibt.

Das steigert sich sogar noch im dritten Akt, einer einzigen, 40-minütigen Beschwörung von Frieden und Ewigkeit. Dazu sehen wir, der runde Tisch ist jetzt Guercœurs Katafalk, wie der vergeblich und fast ritualhaft von Rettungssanitätern reanimiert, wie die Leiche hergerichtet und kremiert wird. Am Ende wird die Asche in der Urne zugedeckelt. Dieses Prosaik ist freilich durch Videos und Licht entrückt, und dazu singt mit irisierend hellem, fruchtig schönem Ton Lina Liu als Verité einen traumhaften irgendwie in einem nebulös höheren Bewusstseinszustand aufgehenden Schlusshymnus, an dem man sich kaum satt hören kann. Und zu dem wir, das verzückt anwesende Publikum, per Video zu Sternenstaub pulverisiert werden.

Das ist üppig, aber nie fett, mysteriös, aber nicht verblasen. Eine „Parsifal“-Parabel, auch Guercœur muss durch Leiden wissend werden, ganz klar, aber viel logischer und weniger zeitverhaftet erzählt als etwa das abstrus symbolistische, wegen der geilen Musik aber noch heute goutierbaren „Wunder der Heliane“ Korngolds.

Wir sind längst wieder empfindsam für solche, kostbar schillernde Klangverästelung, die Fabel ist zudem zeitlos deutlich. Umso unverständlicher, dass erst das kleine, wackere, unter seinem Intendanten Ralf Waldschmidt regelmäßig auf Vergessenes und Ausgefallenes setzende Theater Osnabrück so vehement (man hat sogar eine kleine Foyerausstellung hinzukonzipiert)  auf „Guercœur“ und Albéric Magnard hinweisen musste. Nach so vielen Jahren des Dahindämmerns präsentiert sich ein Meisterwerk für diese Zeit. Hoffentlich ist jetzt der Bann gebrochen. Diese phänomenale Widerentdeckung, die bedeutendste der letzten Jahre, sie möchte man möglichst oft wiederhören und eben auch –sehen!

Der Beitrag Der Himmel kann warten: Wiedergeburt eines Meisterwerks – das Theater Osnabrück stemmt grandios Albéric Magnards „Guercœur“, erstmals und 88 Jahre nach der Uraufführung erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


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