Bisweilen gibt er das Faktotum der schönen Welt. Robert Carsen, vermutlich meist beschäftigster Opernregisseur, inszeniert auch gern Musicals, Ausstellungen oder die celebritygespickte Hommage an Karl Lagerfeld, die die drei Konkurrenzunternehmen Chanel, Fendi und Lagerfeld eben für ihren verstorbenen Ideengeber im Pariser Grand Palais ausgerichtet haben. Nicht weit davon, in der Avenue Montaigne, gegenüber von Dior, hat Carsen freilich gleichzeitig im Théâtre des Champs-Élysées eine Oper herausgebracht, oder besser: weiterentwickelt. Vor 12 Jahren kamen in Chicago als Doppelprojekt erst Glucks „Orfeo“ (dem später noch John Neumeier den „Orphée“ folgen ließ) und eben „Iphigénie en Tauride“ heraus. Die wanderte – immer mit Susan Graham in der Titelrolle – weiter nach San Francisco und London, jetzt kam sie an die Seine und geht noch nach Rouen. Und inzwischen wird die Titelrolle von der besten der jüngeren französischen Singtragödinnen verkörpert. Gaëlle Arquez gibt der von Göttin Diana zu den Skythen ans Schwarze Meer verfrachteten Atridentocher die nötige Härte, aber auch Verzagtheit. Gebeutelt von ihrem Auftrag als Mordmonster und Priesterin, die im Auftrag des König Thoas jeden Fremden der Göttin opfern soll, taumelt sie durch den packenden Vierakter.
The Dark Side of the Gluck Moon, so düster sieht Robert Carsen das auf vier Personen reduzierte Kondensat als schicksalhaftes Schattenspiel. Das ist zwar von 1779, mutet in seinem noch tausende Jahre älteren Konflikt zwischen Verantwortung und Bestimmtheit, Gnade und Familienbande ungeschminkt modern an. Dafür hat ihm Tobias Hoheisel einen hohen schwarzen, schmucklos gekachelten Raum hingestellt, durch dessen Rizzen immer wieder Flüssigkeit rinnt und über die Bodenschräge läuft. Sie verwischt die Namen, die als diese Menschen in Schach haltendes Menetekel in Versalien an den Wänden stehen: Agamemnon, Iphigenie, Klytämnesta – und am Boden ist Orest zu lesen. Keiner kommt dem aus, die Familienbande bestimmen ihr Handeln und Wollen. Es dauert bis fast zum finalen Opfer, dass sich die Geschwister erkennen, umso länger ringt Orest mit seinem Freund Pylades, wer sich nun töten lässt. Schließlich hat Diana (hier nur die durchdringende Stimme von Catherine Trottmann) ein Einsehen und stoppt das ewige Morden. Thoas (auch vokal nur durchschnittlich: Alexandre Duhamel) zuckt zurück, die Wände heben sich, die Fremden verschwinden. Iphigenie aber kann nicht weg, sie verharrt zwischen den Gefallenen im Halbschatten.
Wenn am Schluss die Göttin eingreift, führt sie freilich nicht nur ein halbwegs gutes Ende herbei, sie übergibt den Menschen auch Verantwortung für ihr künftiges Handeln, indem sie den Opferritus abschafft: Sie macht sie zu moralisch haftbaren, eigengesteuerten Wesen. Robert Carsen inszeniert das ritualhaft streng, immer wieder scheinen seine Protagonisten mit Schwert und Hirn gegen ihre Bestimmung anzukämpfen. Sorgfältig ist das Licht von ihm und Peter van Praet gesetzt, das den strengen Raum gliedert und verändert. Der Chor ist in den Graben verbannt, stattdessen bewegt der Choreograf Philippe Giraudeau seine 20 Tänzer, als Priesterinnen wie Soldaten alle im gleich schmucklosen Schwarz, über die Szene. Bruchlos geht die Regie in tänzerische Arrangements über, wirbelt so die Figuren noch stärker durcheinander, schafft Spannung und Varianz.
Gaëlle Arquez ist der dunkle, doch samtige Stern dieser verhalten starken Gluck-Galaxie. Sie leuchtet warm, aber auch vibrant auf, hat sehnige Energie, offenbart zudem durchscheinende Verletzbarkeit. Das Schwert ist ihre Waffe wider Willen, doch ohne fühlt sie sich um ihr Dasein gebracht. Daneben gibt Stéphane Degout mit gellend auftrumpfendem, selten sanftem, meist kantigem Bariton den Orest als Macker und Macho. Eine Kampfmaschine, die nur ruhiger wird, wenn sein Freund Pylades singt und ihn in einem mit Kreide auf den Boden gezeichneten Karree besänftigt. Sind die beiden Liebende, wie man es oft in Glucks hier plötzlich innige Musik hineininterpretiert hat? Carsen lässt das offen, vermeide körperliche Nähe. Aber Paolo Fanales weicher Tenor verleiht dem Pylades Innigkeit und Güte, möglich wäre es also….
Und es beglückt zudem bis zum Finale die Musik. Gluck beginnt mit einem wilde Sechzehntel durchrasenden Seesturm. Später hält Thomas Hengelbrock sein Balthasar Neumann Ensemble und Chor zu zartem, dann wieder kräftig zupackendem Spiel an, variiert gekonnt die Dramatik, lässt den Oboenvirtuosen Gluck glänzen. Die historisch geübten Musiker spielen dank einer stufenlosen Dynamikskala und einer in immer neuen Schattierungen abgemischten Farbpalette eine weitere Hauptrolle: die Glucksche Ausdrucksfülle auf kleinstem Raum – Ariosi, Rezitative, präzise Chöre, Tänze – ertönt als akustisch reines, immer spannendes Klanggemälde von großer Tiefenwirkung.
Hengelbrock ist in Paris kein Gluck-Unbekannter. Er hat hier schon beim Ballet de l’Opéra Pina Bauschs frühe „Orfeo ed Euridice“-Choreografie mit seiner Truppe begleitet. Sehr tänzerisch ist deshalb sein Zugang. Was gut zur strengen Arbeit des Bausch-Fans Robert Carsen passt. Der übrigens kurz nach der Premiere 2007 Strauss’ „Ariadne auf Naxos“ in München als heitere Tragödie zeigte. Und wieder wie in Bausch-Manier, schwarz in schwarz. Deren „Iphigenie“-Variante wird übrigens Ende der Saison 19/20 erstmals außerhalb Wuppertals beim Dresdner Semperoper Ballett wiederzusehen sein.
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