Ob den Bruder Jacob das gefreut hätte? Jedenfalls leistet die Pariser Opéra-Comique (der Bindestreich meint das Haus, ohne bezeichnet es das Genre der französischsprachigen Oper mit gesprochenen Dialogen, komisch oder nicht) Abbitte am Abend des 200. Geburtstags von Jacques Offenbach. Er, der hier zwar als Cellist einige Jahre im Orchestergraben saß und die Funktionsweisen unterhaltenden Musiktheaters kräftig inhaliert hat, wurde als Komponist langhaltig von den hohen Pforten ferngehalten. Erst als arrivierter Künstler von 39 Jahren durfte er 1860 hier seinen „Barkouf“, die bitterböse Geschichte vom Hund auf dem Thron, herausbringen. Diese, wie eben die Wiederaufführung in Straßburg belegte, grandiose opéra comique wurde, der widrigen Umstände – Zensur, Krankheiten, antisemitischen Pressekampagne – wegen als Flopp verbucht. Und die gegenwärtig teure und goldstuckglitzernde Halle, die dritte Salle Favart, wie die Comique offiziell heißt, auch wenn sie kein Pariser so nennt, die haben weder Offenbach je betreten (sie wurde erst 1898 eingeweiht) noch das namensgebende Ehepaar Favart. Er, Charles Simon Favart (1710-90), war Theaterautor und Opernkomponist, der dem neuen, volkstümlichen Genre entscheidende Impulse gab und schließlich mit der Leitung der dafür vorgesehenen Bühne betraut wurde. Heute ist er nur noch ein Name der Theaterhistorie. Seine bleibende Leistung für die Operngeschichte ist, dass er den direkten Libretto-Vorläufer für Mozarts Jugendsingspiel „Bastien und Bastienne“ lieferte. Justine Favart (1727-72), seine Frau war nicht nur Koautorin vieler seiner in zehn Bänden (!) veröffentlichten Stücke, sondern eine bedeutende, sehr vielseitige Schauspielerin, die als eine der Ersten rollendeckende Kostüme trug – und nicht die Schäferin im Seidenkleid gab. Deshalb wohl hat sie jetzt – wie originell! – die Opernregiedebütantin Anne Kessler, Schauspielerin an der Comédie Française, im Schneideratelier der Opéra-Comique lokalisiert. Das nämlich dient, in dreistöckiger Gusseisenanmutung, absurd, und kaum genutzt, als Einheitsbildhintergrund für – „Madame Favart“. So heißt eine der späten, nostalgisch romantisierenden Operas comiques von Jacques Offenbach. Uraufgeführt wurde sie freilich im Dezember 1878 in den Folies-Dramatiques. Der feierliche Geburtstagseinzug, koproduziert von der Opéra—Comique sowie der bewährt-gewitzten Stiftung Palazetto Bru Zane, die nach Limoges und Caen weiterwandern wird, ist also jetzt so etwas wie eine späte Jubiläumswiedergutmachung und eine Art neuerliche Weihe des Hauses. Die man sich durchaus origineller hätte vorstellen können.
Doch zum guten Eindruck gehört der champagnerpricklende Dirigiergestus von Laurent Campellone, der dem klangprallen Orchestre de Chambre de Paris vorsteht. Das ist ein zugespitzt rhythmisierter, ganz und gar leichtgewichtig knallender Offenbach-Sound, auch melodienbeschwingt, marschierfreudig, galoppgespannt und walzerselig. Eine bunte Partitur mit einem Libretto von Alfred Duru und Henri Chivot, braver – vor allem im ersten Akt – als üblich, mit einer Zuckerbäcker- und einer Winzerarie, einem mozärtlichen Quartett und einem verjuxten Tiolerduett. Es finden sich feine Bouffonerien, Verkleidungsulk, Rokoko-Reminiszenzen und eine krachige Tenorbuffo-Charge (Éric Huchet – famos als aufgeblasen testosteronblubbernder Marquis de Pontesablé). Aber meist gibt sich Offenbach hier versöhnlich sentimental, beschwört für die neue Bürgerlichkeit, der nicht mehr so feierfreudig zu Mute ist wie im zweiten Kaiserreich, das Glück der stillen Häuslichkeit wie des Ehestandes. Und das fast ganz ohne Frivolitäten.
Für die steht hier, anders als in „Adriana Lecouvreur“ als latin lover, ein nie erscheinender Moritz von Sachsen. Der uneheliche Sohn August des Starken (und sagenumwobene Urgroßvater von George Sand), kämpft als alter, geiler Bock inzwischen vorwiegend an der Liebesfronlinie. Und er hat es auf Madame Favart abgesehen. Was übrigens historisch belegt ist, nicht aber das operettige Quiproquo. Madame versteckt sich im Kloster, Monsieur im Keller einer Gastwirtschaft. Dazu kommt ein zweites, jüngeres Paar, Suzanne und Hector, die heiraten wollen, aber vom Marquis de Pontsablé verfolgt werden – weil der Suzanne hinterhersteigt und auch für den Maréchal de Saxe Detektivarbeit betreibt. Ein rustikaler Gastwirt und ein steifer Vater verstärken zudem das derbe Typenkabinett, das drei Akte lang von der Wirtschaft über die Wohnung und das Militärlanger nach allen Regeln der Farce-Kunst und des Verkleidungsulk durcheinandergewirbelt wird.
Wie gesagt, in der Opéra-Comique, müssen aktuell alle Mitwirkende so tun, als steigen sie aus den Offenbach-Protagonisten in ihrer Schneiderexistenzen zurück. Da trägt man dann mal ein einen blumenumwickelten Reifrock, der auch als Monsterbouquet und Lüster dient – warum auch immer. Solche ablenkenden Einfälle hat Anne Kessler so einige, sie hätte sich lieber mal auf eine bessere Schauspielführung in den vielen Dialogen konzentriert, da wird à la française dauerschnaubend übertrieben und fast immer nur exaltiert geschrien. Nicht sehr graziös. Immerhin, nachdem sich die gejagte Madame Favart vor Ludwig XV. einen Erfolg erspielt, bekommt ihr Mann das Patent für die Opéra-Comique, und zum Finale senkt sich als transparente Theaterfantasmagorie das heute Pausenfoyer der dritten Salle Favart herab. Voice, la gloire de la France!
Marion Lebègue gibt diese Madame Favart als handfest komische Mittelalte, mehr Dragoner als Feingeist, die vor allem als böse Tantenschachtel überzeugt, und singt sie mit erdigem Mezzo. Christian Helmer ist ihr bassvokal etwas unterbelichteter Mann. François Rougier offeriert als aufstiegswilliger Militär Hector einen hübschen Krähtenor und wendiges Spiel. So hat es die sopranschöne Anne-Catherine Gillet als Suzanne leicht, zu glänzen und zu funkeln, auch wenn sie in der Damenriege hierarchisch eigentlich an zweiter Stelle steht.
Der tolldreiste Éric Huchet war auch schon vor drei Wochen der titeltragend lachverjuxte „Maître Péronilla“ in einer ebenfalls 1878, vor der „Favart“ uraufgeführten hispanesken Opera bouffe, die der Palazetto konzertant an den Anfang seines diesjährigen Paris Festivals gestellt hatte und mit einem beschwingt aufgelegten Markus Poschner auch aufnehmen ließ. Zwei eminente, kaum bekannte Werke aus der Offenbach-Spätzeit (auch wenn die „Madame“ kein ausdrückliches Wunschstück der Bru Zanes war), das machte dramaturgisch durchaus Sinn. Dazu gab es bei der inzwischen 7. Festival-Auflage Konzerte zum 150. Berlioz-Todestag und andere Trouvaillen. Und man hat die höchst witzige, erfreuliche Reihe Bouffes de Bru Zane mit halbstündigen Operetteneinaktern im Studio des eleganten Théâtre Marigny mit einem weiteren grellvergnügten Duo fortgesetzt.
„Sauvons la Caisse“ von Charles Lecocq erzählt von einem Diener, der in eine Zirkusartistin verliebt ist und deshalb die Identität seines polnischen Herren annimmt. Die fast schon surreal anmutende Groteske „Faust & Marguerite“ des völlig unbekannten Frédéric Barbier (1829-89) erzählt nicht nur davon, wie parodiebeliebt einst die Gounod-Oper war, sie zeigt ein durchgeknalltes Sängerpaar, das ganz andere Musik singt in Vorbereitung seines Auftritts, der dann doch nicht stattfindet. Das ist so schrill wie pointiert von Lola Kirchner mit einem Minimum an Aufwand in Szene gesetzt, und Lara Neumann wie Flannan Obé schmeißen sich mit Verve in ihre Knallchargen, singen aber dabei genauso gekonnt. Ungerührt spielt Pierre Cussac seine Akkordeonarrangements zu dem komödiantischen Tollhaus, das nach 60 Minuten zu einem atemlosen Ende findet. Das fand übrigens auch Madame Bru selbst sehr komisch!
Alexandre Dratwicki, der künstlerische Bru Zane-Chef, ist hocherfreut über diese Operettenekundung, die er erst einige Jahre nach dem Start der Stiftung, aber dafür umso vehementer begonnen hat. Die von der Gruppe Les Brigands inszenierten Tourproduktionen laufen super, nächstes Jahr kommen sogar große Häuser wie Toulouse und Bordeaux als Partner mit ins Unterhaltungsboot. Raynaldo Hahn, einer der beiden Komponistenschwerpunkte 2019/20, steht praktischerweise für das Seriöse wie die Operette. Ihm wird kurz vor der Jubiläumsgala zum 10. Bru Zane-Jahr beim venezianischen Herbstfestival gedacht; das Münchner Rundfunkorchester wird im Januar 2020 konzertant „L’île du rêve“ geben. Viel Saint-Saëns hat Dratwicki zu dessen 150. Todestag 2021 im Köcher, unter anderem szenische Aufführungen von „Les Barbars“ und „Henry VIII“. Und in der Operette wird weiter Hervé ein Schwerpunkt sein.
Besonders die Mini-Einakter, zahlenmäßig immerhin zwei Drittel des musiktheatralischen Schaffens der französischen Romantik, sind inzwischen gerne gebucht in Städten und Dörfern, die noch nicht einmal ein Theater, nur einen Versammlungssaal haben. So wie das kleine Houdain bei Arras, Geburtsort von Hervé, wo für ein Bru Zane-Gastspiel sogar der Bürgermeister mit Amtsschärpe anrückte, um dem großen Sohn zu huldigen. Auch Altersheime und Krankenhäuser buchen dieses vergnüglichen Amuses geûles gern. Ein toller sozialer Nebeneffekt, wie Dratwicki findet. Deshalb gibt es in der nächsten Saison wieder zwei Operetten-Kurz-Doppelwhopper im Marigny (wo übrigens einst Offenbachs Ur-Bouffes Parisiennes an den Champs-Élysées standen), mit u.a. Lecocqs „Le docteur Miracle“ und Offenbachs verjodelter Elsass-Farce „Lieschen und Fritzchen“.
Zum 200. Offenbach-Jubiläum hingegen lässt es sich schnell überschauen, wie die Offenbachialen medial bescheiden gewachsen sind. An prominentester Stelle ist bei den klingenden Musikalien – als einzige Operetten-Neueinspielung überhaupt – Marc Minkowskis griffige Mischfassung aus beiden Versionen von „La Périchole“ zu nennen, die der Palazetto Bru Zane in seiner bewährt schönen Buch-CD-Reihe herausgebracht hat. Dabei ist Aude Extrêmo – nomen ist diesmal omen – eine auch vokal resch und knackig zupackende Straßensängerin. Als Piquillio ist leider nicht – wie letztes Jahr in Salzburg – Bernjamin Bernheim zu erleben; Stanislas de Barbeyrac tönt verhalten. Wunderbar auf dem Pointenpunkt wieder der Tenorbuffo Éric Huchet als Don Miguel. Und die Musiciens du Louvre haben längst einen griffig-spritzigen Offenbach im Instrumentalistenblut, dem Minkowski generös Zucker, Pfeffer und Chili gibt.
Howard Griffiths hat mit seinem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt für cpo schwung- und liebevoll Ouvertüren der nicht so bekannten Bauart eingespielt – aus „Les bavards“, „Les bergers“, „Le Roi Carotte“, „La Creole“, „Les bringands“, „L’île de Tulipatan“, „Monsieur Choufleurie s’amuse chez lui“, „Ba-Ta-Clan“, „Genevieve de Brabant“, „Madame Favart“ oder „La princesse de Trébizonde“. Sehr lehrreich, diese Melodienfülle, dieser Espit. Das gilt auch für die entdeckungsfreudige Cellistin Rafaela Gormes, die sich für Sony nach Rossini-Bearbeitungen zumindest einem Bruchteil des Instrumentalschaffens des Cellovirtuosen J. O. zugewandt hat, welches er, immer voll Sehnsucht nach dem Musiktheater, während seiner ersten Pariser Jahre als Lebensgrundlage für die blühende Salonkultur verfertig hat. Mit Julian Riem am Klavier und Wenn-Sin Yang am zweiten „Barcarolen“-Cello gibt sie einen bunten Querschnitt durch Innovationsfreude und Geschmack dieser längst verschwundenen, durchaus liebenswürdigen Musizierkultur, die sich an instrumentalen Schlittenfahrten, Träumen am Meer, melancholischen Walzern und den „Tränen der Jacqueline“ erfreute.
Und auch das Cello-Concert Militaire, Offenbachs längstes Opus für sein Instrument, gibt es in einer moussierenden Neuaufnahme zu hören. Ebenfalls bei Warner/Erato lässt Edgard Moreau marschieren und musikalisch losballern – mit dem Orchestra Les Forces Majeures unter dem befeuernden Raphaël Merlin als Schlachtkameraden. Auf 30 CDs hat Warner ihre dem Fan längst bekannte Operettenschätze der EMI und Erato auf Französisch und Deutsch (die oft opulenter orchestrierten Wiener Versionen) als Box gebündelt, mit spärlichen Informationen, aber den alten Covern und zum Kampfpreis. Als einzige, aber grandiose Vokalneuaufnahme macht das Rezital „Offenbach Coloratur“ (alpha) der Belgierin Jodie Devos viel Spaß. Die hat das Lachen in der Kehle, gibt dieser Musik Charme, Witz und Individualität.Auf ihrer CD mixt sich abwechslungsreich Bekanntes („Les Contes d’Hoffmann“, „Orphée aux Enfers“) mit viel zu Entdeckendem („Boule de Neige“, „Vert-Vert“, „Le Roi Carotte“). Das Münchner Rundfunkorchester und Laurent Campellone am Put haben sich davon ganz bezaubernd anstecken lassen.
Nichts gibt es aus der DVD-Ecke, und auf dem Büchertisch finden sich drei Dinger: Der Palazetto hat bei Actes Sud eine vom Offenbach-Papst Jean-Claude Yon edierte Sammlung von dessen offenen Briefen an den „Figaro“ und andere herausgebracht: „M. Offenbach nous écrit“, natürlich auf Französisch. Der Musikwissenschaftler Ralf-Olivier Schwarz hat bei Böhlau „Jacques Offenbach. Ein europäisches Portät“ vorgelegt. Das fasst den Wissenstand ganz gut zusammen, ist zudem seit langem die erste ausführlichere Publikation in Deutsch. Ein Schwerpunkt liegt auf der Kölner Zeit mit ein paar neuen Erkenntnissen. Doch die Pariser Jahre ziehen sich ein wenig dröge dahin, es wird selten plastisch, eher abgehakt. Brauchbar also, aber nicht sehr animierend.
Dann lieber Heiko Schons knappes „Offenbach. Meister des Vergnügens“ (Regionalia). Das ist eine flott, ja stellenweise auch flapsig geschriebene Monographie, die sich großzügig aus der vorhandenen Literatur bedient. Schons Buch verliert sich zwar als sprunghaft-wirrer Lebensabriss in so albernen Aufzählungen wie dem trinkenden, essende, liebenden, reisenden Offenbach, aber sein Werklein hat einen großen Vorteil: Er ist eigentlich ein biographisch umrankter Opernführer. Immerhin knapp 100 Werke werden kurz und treffend inhaltlich referiert, charakterisiert und mit pfiffigen Plattentipps vorgestellt. Dafür ist es gut und wichtig. Hoffentlich macht sich angesichts der noch wiederzuentdeckenden Stücke mancher Opernintendant so seine Gedanken…bis dahin kann man zudem virtuell unter musee.sacem.fr in einer kleinen, feinen Offenbach-Ausstellung stöbern.
Der Beitrag Zum 200. Geburtstag: Jacques Offenbach zieht mit „Madame Favart“ in die Pariser Salle Favart ein. Plus ein paar Jubiläumsempfehlungen erschien zuerst auf Brugs Klassiker.