Es ist still geworden um ihn, auch in seinem Heimatland Japan: Dabei war Seiji Ozawa einmal einer der umtriebigsten Mega-Dirigenten des Globus, ein Taktstock-Jetsetter der Post-Karajan-Generation. Der hat ihn sehr gefördert und Ozawa, in Japan verehrt man die starken alten Männer, lag ihm zu Füßen. Er selbst wurde als erster Asiate in der vordersten Reihe des sich ab den Seventies immer heftiger drehenden Stardirigenten-Karussells einer ihrer prominentesten Mitfahrer. Fernöstliche Innerlichkeit und europäische Extrovertiertheit, der bekennende Buddhist mit dem schrägen Blick, dem einst schwarzen Strubbelhaar und der Amulettkette auf weißem Rollkragenpullover statt Frack verkörperte das als popig-perfekte Mischung. Vorbei.
Schon länger freilich. Nicht nur musste sich Seiji Ozawa 2010 einer hammerharten Therapie wegen Speiseröhrenkrebs unterziehen. Seither ist er so geschwächt, dass er nur noch selten, und dann meist in Japan ans Pult tritt. Doch auch dabei hat er sich schon mehrere Bühnenunfälle zugezogen. Aber trotz eines aktuellen Knochenbruchs will er heute, zu seinem 80. Geburtstag, wieder am Pult des Saito Kinen Orchestra im als Innsbruck Japans geltenden Matsumoto stehen. Das gleichnamige Festival hat er dort 1992 im Andenken seines verehrten Lehrers gegründet, seit diesem Jahr heißt es freilich Seiji Ozawa Festival: Nun ist der Schüler endgültig in den Rang des weisen alten Mannes aufgestiegen.
Das sieht man anderswo freilich nicht so. Der Bedeutungsverlust des Seiji Ozawa, dem jetzt nicht einmal eine seiner Plattenfirmen mehr eine Jubiläumsbox widmen wollte, hatte nämlich schon früher eingesetzt. Einst von dem kürzlich verstorbenen Ronald Wildford, genannt „The Fox“, als Dirigentenübervater und Pate der einmal so mächtigen Agentur CAMI überall durchgeboxt, war er in seinen letzten internationalen Pultjahren nur noch ein Schatten seiner selbst. Der einst so feurige Berlioz- und präzise Strawinsky-Interpret wirkte müde, konfus, wie erloschen. Schon sein 1973 als heiße Verlobungszeit begonnene Ära beim Boston Symphony Orchestra hatte viel zu lange angehalten und ging 2002 in einer Art Agonie zu Ende. (Trotzdem machte man dort den Fehler, mit James Levine erneut einen Chef zu verpflichten, der seine beste Zeit gesehen hatte – was jetzt seit 2014 Andris Nelsons wieder richten soll.)
Und Seiji Ozawas einmal mehr auf den prominenten Namen setzende Verpflichtung als Musikdirektor der Wiener Staatsoper von 2002 bis 2010 war auch nur noch ein schwaches Verglimmen: Er kam im dortigen Intrigenstadel mit dem Repertoirebetrieb nicht zurecht, schien immer die falschen Werke als Premieren auszuwählen, war zu wenig präsent. Unter ihm wirkten die Wiener Philharmoniker wie ferngesteuert. Immerhin, eine sensualistisch feine, rhythmisch präzise „Tannhäuser“-Premiere 2007 an der Pariser Oper blieb aus diesen Jahren in Erinnerung.
Geboren 1935 in der damals japanisch besetzten Mandschurei, kam Ozawa schon früh mit verschiedenen Kulturen in Berührung. Sein Vater war Buddhist, seine Mutter Christin. Sie war es, die ihren Sohn mit westlicher Musik vertraut machte. Als die Familie nach dem Krieg nach Tokio zog, erhielt der ältere Sohn ersten Klavierunterricht. Ein Sportunfall, bei dem er sich vier Finger brach, setzte seinem Traum von einer Pianistenlaufbahn ein Ende. Der Musiker sattelte auf Komposition und Dirigieren um und wurde bei seinem ersten Auftritt mit 24 Jahren mit dem Japan Philharmonic Orchestra als großes Talent gefeiert. Der erste Preis beim Dirigentenwettbewerb 1959 in Besançon wurde zum Sprungbrett in den Musikbetrieb, auch wenn sich Seiji Ozawa lange gegen das Vorurteil behaupten musste, als Japaner könne er die europäischen Klassiker nicht „mit der Seele begreifen“. Viele Orchester hat Ozawa mit den Augen geführt. „Ich bin nicht gut in Fremdsprachen. Wenn ich ausländische Orchester dirigiere, habe ich gar keine andere Wahl“, antwortete er unlängst auf die Frage einer japanischen Zeitung nach der Kraft seines Blicks, die Musiker wie Fans bewundern.
1961 wurde Seiji Ozawa Assistent von Leonard Bernstein, acht Monate assistierte er auch bei dessen größten Rivalen und Gegenbild Herbert von Karajan in Berlin. Ozawa kam mit beiden gut aus, was für sein ausgleichendes Temperament spricht. Später übernahm er das Ravinia-Festival, die Sommerresidenz des Chicago Symphony Orchestra, und gleichzeitig wurde er Chefdirigent beim Toronto Symphony Orchestra. 1970 folgte das San Francisco Symphony Orchestra, drei Jahre danach landete er in Boston, wo er sich, gemeinsam mit Gunther Schuller, besonders an dessen Sommersitz, dem Tanglewood Festival in den Berkshires, für den Nachwuchs und die Moderne stark machte; diesem wunderbaren Ort der Musik so einen unverwechselbaren Stempel aufdrückte. 1994 wurde dort die Seiji Ozawa Hall eingeweiht.
Seiji Ozawa wurde schnell ein Liebling der Berliner Philharmoniker, mit denen er auch viele Plattenaufnahmen realisierte, und er war von Mailand bis Paris, London und Salzburg lange ein gefragter Operndirigent. Zu seinen bedeutenden Uraufführungen gehören neben diversen Werken seines Landmanns Toru Takemitsu Hans Werner Henzes Achte Sinfonie, vor allem aber Olivier Messiaens monumentales Hauptwerk „Saint François d’Assise“ 1983 in Paris – Kent Nagano war damals sein Assistent, heute ist der in Kalifornien geborene Sohn japanischer Einwanderer der berühmteste asiatisch anmutende Dirigent. So schließen sich Kreise.
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