Wer am letzten Freitag bei der 235. Saisoneröffnung des Leipziger Gewandhausorchesters seine Antennen sensibilisiert hatte, der konnte es deutlich spüren. Alles wunderbar bei dem Eliteklangkörper an der Pleiße, aber irgendwie schient die Stimmung zwischen Chefdirigent und Musikern anders also sonst: distanzierter, geschäftsmäßiger. Dabei gelang Riccardo Chailly und den Seinen aus dem Stand eine wundervoll dramatisch durchpulste, letzte Dinge abwägende, dankbar Rückschau haltende, die Apotheose sanft und ohne blechsattes Ärmelaufkrempeln transzendierende Interpretation von „Tod und Verklärung“. Und auch das anschließende, meistgespielte aller Klarinettenkonzerte musizierte man mit dem tänzerisch bewegten, dann verinnerlicht Strukturen reflektierenden, ja im langsamen Satz auch anrührenden Martin Fröst angenehm unroutiniert, wach und blitzsauber.
Strauss und Mozart, dieser feine, beziehungsreiche Zweiklang bestimmt die ersten neuen Arbeitswochen des Gewandhausorchesters und auch von Riccardo Chailly. Es ist die elfte Spielzeit des Italieners, und eigentlich sollte es noch bis 2020 weitergehen – aber jetzt ist schon im Sommer 2016 Schluss. Das wurde eben verkündet – am gleichen Tag, an dem die aufstrebende Klassikwebseite Bachtrack Chailly laut einer Umfrage unter internationalen Musikkritikern als „Dirigent des Jahres“ ausgerufen hatte. Und auch das Gewandhausorchester selbst – hinter den Berliner und Wiener Philharmonikern sowie dem Concertgebouw Orchest Amsterdam auf Platz vier von zehn Klangkörpern im Bachtrack-Ranking gelandet war.
Eine schönere Bestätigung für die im Ausland sehr geschätzte, in Deutschland hinter dem schnittigen PR-Wirbel der Berliner Philharmoniker und der Goldkante der Dresdner Staatskapelle, auch Daniel Barenboims sehr beschäftigter Berliner Staatskapelle immer ein wenig verschwindenden, dabei grandiosen Gewandhausorchester-Arbeit kann es kaum geben. Zumal es nicht die einzige ist. Chailly hat das Gewandhausorchester auf vielen Tourneen noch einmal internationalisiert, er hat ihm einen geschmeidigeren, frischeren, aber immer noch, ja, wirklich: „deutschen“ Klang gegeben und gelassen. Er har große sinfonische Zyklen erarbeitet, die Moderne nicht vernachlässig, Bach wieder regelmäßig zum zeitgemäßen Repertoireanliegen eines Traditionsorchesters werden lassen, wichtige Uraufführungen von Rihm oder Henze herausgebracht. Mit dem aktuellen Straus/Mozart-Projekt, drei Abenden mit sieben Strauss-Orchesterwerken und drei Mozart-Konzerten, ist man nicht nur in Leipzig drinnen und draußen umsonst, auf dem Augustusplatz als „Klassik airleben“ präsent, man schaut damit auf den jährlichen Kurz-Residencys auch in Paris, London und Wien vorbei.
Was das Publikum dort erwartet, konnte man noch einmal in der zweiten Leipziger Konzerthälfte in gut kombinierter Kontrastwirkung erlebten. Hier die intellektuell souveräne, die 23 Solostreicherstimmen geradlinig, kristallklar und doch mit bewegendem Musikantentum zusammenführenden Strauss-„Metamorphosen“ , da dessen jugendlich überbordende Erzählfreude und sein phänomenales Instrumentierungskönnen in „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ – als Fest orchestraler Fabulierlust und spieltechnischer Meisterschaft. Das war ein Holzbläser-Hauen und -Stechen, ein gewitztes Streicher-Hakenschlagen, harmonischer Blechlärm und ein fulminant trocken verpuffender Schlussakkord!
Einen neuen optischen Auftritt mit sanfter Logo-Straffung und knalligen Farben hat man sich gerade gegönnt. Und hausgroß pärentieren sich die Musiker auf dem Plakat gegenüber ihrer Arbeitsstätte, praktischerweise gehört das Gebäude dahinter ihrem Briefe und Pakete austragenden Sponsor. 30 vielfach preisgekrönte CDs und DVDs sind in Chaillys sächsischen Jahren zudem bisher entstanden. Welches Orchester und welcher Dirigent könnten solches heutzutage sonst noch von sich behaupten? Pressfrisch liegt im Moment des angekündigten Abschieds die jüngste DVD-Frucht von Riccardo Chaillys zweiter dokumentierter sinfonischer Auseinandersetzung mit dem Kosmos Gustav Mahler vor – als siebte eben die 7. Sinfonie, die noch fehlenden Erste und Dritte sind bereits aufgenommen; alle mit eigens angefertigten Covern von Neo Rauch: Leipziger Klang- und Bildschule at her best. Der sonst so scheue Maler war hinterher auch beim Maestro im Künstlerzimmer zu finden.
Da ging es herzlich zu, aber eben auch ungewohnt sachlich. Mit Gewandhausdirektor Andreas Schulz tauschte man Glückwünsche aus, freute sich auf die Freiluft-Sause wie die Tournee. Aber schnell sitzen Riccardo Chailly und seine Frau Gabriella in sehr kleinem Kreis bei ihrem Lieblingsitaliener, obwohl in den Gewandhaus-Foyers noch Party mit Freigetränken ist. Und man spürt es: Sie gehen bereits geistig auf Distanz zu Leipzig. Die Freude auf Kommendes , vor allem 2017 die offizielle Übernahme der Mailänder Scala als Musikchef, wo ihm die „Turandot“ seines alten Regiefreundes Nikolaus Lehnhoff zur Expo-Eröffnung sichtlich gut getan hat, er die Kräfte dieses einzigartigen Opernhauses grandios spüren konnte. Hier sind die Chaillys als eingefleischte Mailänder zu Hause und gleichzeitig am Ziel. Da muss man eben auf manches verzichten, zum Beispiel auf einen geplanten Mendelssohn-CD-Zyklus, und das, wo Chailly doch die Reformationssinfonie besonders liebt.
Dazu kommt für ihn stattdessen die Übernahme ab nächsten Sommer des glamourösen (und gut zahlenden) Lucerne Festival Orchestra; wie die Scala ein wenig auch in den Fußstapfen seines großen Idols Claudio Abbado. Wenn er von diesen Möglichkeiten schwärmt, zu gestalten, einen Klangkörper noch einmal nach seinem Bilde und mit seinen Musikerfreunden (auch aus Leipzig) neu zu formen, gar als Erstes mit der 8. Sinfonie Mahlers Abbados Pionierzyklus zu vollenden, da glitzert es fröhlich und erwartungsfroh in Riccardo Chaillys Augen.
So geht er also nun beim Gewandhaus, wenn es in Leipzig am Schönsten ist – „senza rancor“, ohne Reue, aber nicht hustend wie die Mimì in Puccinis „La Bohème“, einer erklärten Lieblingsoper. Respekt. Das hat er richtig gemacht, zumal einer späteren Rückkehr als Gastdirigent nichts im Wege steht. Und er geht – so war es ausgemacht, wenn ein Neuer gefunden ist. Das fügte sich offenbar sehr schnell, was für Ruf und Rang des Gewandhausorchesters spricht. Am nächsten Mittwoch schon soll der 20. Gewandhauskapellmeister verkündet werden.
Und das in einer Woche, in der plötzlich die neuen Chefs fast im täglich Wechsel sich vorstellen! Vor kurzem wurde – nach heftigen internen Querelen, denen sowohl Marc Piollet wie Jun Märkl zum Opfer fielen – der Kanadier Jacques Lacombe als neuer Mann an der Spitze des Bonner Beehovenorchester gekürt. Eben wurde Alain Altinoglou als neuer Brüsseler Opernmusikdirektor bekannt gegeben, heute folgte das Erbe von Pierre Boulez bei der Lucerne Festival Academy – Wolfgang Rihm leitet und Matthias Pintscher wird Chefdirigent. Am Montag präsentieren die Bamberger Symphoniker den Nachfolger von Jonathan Nott, und am Mittwoch gibt es Tamtam in Leipzig. Natürlich schießen die Spekulationen ins Gerüchtekraut: Wird es ein dort traditionell eher Arrivierter sein, Christoph Eschenbach oder Semyon Bychkov (im Augenblick ohne Chefposten)? Oder doch ein etwas Jünger, Vladimir Jurowski oder der am Anfang letzter Saison, nach Chaillys Armbruch eingesprungene Alan Gilbert (ab 2017 mit dem New York Philharmonic fertig)? Oder wird es, in Leipzig ventiliert man ihn, ebenso bei der Eröffnung des Musikfests Berlin – wohlmöglich Andris Nelsons?
Obwohl man dem, gerade hat er beim Boston Symphony Orchestra bis 2022 verlängert, eigentlich nicht noch mehr Arbeit, Transatlantikflüge und Terminstress, sondern ein wenig Konzentration wünschen würde. Denn Boston bedeutet auch das größte Klassik-Sommerfestival der USA in Tanglewood sowie regelmäßige Festspieltourneen. Und nebenbei möchte der vielgefragte, vielbeschäftigte Lette noch Opern dirigieren, gastieren, mindestens bei den Berlinern, den Wienern, und für die nächsten fünf Jahre auf dem Grünen Hügel den „Parsifal“ leiten. Muss dann auch noch Leipzig sein? Sicher eine schöne Kombination. Am 9. Septeber, dem Tag der Verkündigung, hätte er auch frei. Aber man würde dem Gewandhausorchester trotzdem lieber einen charismatischen, auf diesen Spitzenklangkörper konzentrierten Chef als Alleinstellungsmerkmal wünschen. So wie das auch mit Riccardo Chailly so wundervoll funktioniert hat. Elf harmonische, reiche Jahre lang. Grazie! A presto!
Gustav Mahler: 7. Sinfonie (accentus music)
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