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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Carmen, die Brille, Liszt, das Paar, die Wanne, Bolero, der Bruder: An der Pariser Opéra gibt der Choreograf Mats Ek ein fröhliches Comeback und spielt locker mit vielen Legenden

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Aus. Vorbei. Ich mag nicht mehr, ich habe alles gesagt. So lautete vor vier Jahren, zu seinem 70. Geburtstag, das Fazit des weltberühmten schwedischen Choreografen Mats Ek. Anders als seine Mama, Birgit Cullberg, wollte er eine ruhige Rente. Denn gleichzeitig vergab er keine Lizenzen mehr für seine alten Werke. Ein Lebensleistung – abgeschlossen. Kann man verstehen. Aber so konsequent, wie etwa seine zumindest als Gruppe seit 1982 verstummten Abba-Landleute, ist er – zum Tanzglück – nicht geblieben. Offenbar war ihm fad. Denn jetzt hat er beim ihm eng verbundenen Ballet de l’Opéra de Paris im Palais Garnier sogar gleich zwei neue Stücke zur Uraufführung gebracht. Mit der neu ins dortige Repertoire aufgenommenen „Carmen“ von 1992 rundet sich das zu einer so berührenden wie beziehungsreichen Hommage an Ek selbst, seinen unverwechselbaren Stil wie an die Tanzkunst und ihre Geschichte überhaupt. Dafür stehen schon die hier versammelten Komponisten: George Bizet mit seiner „Carmen“-Suite in der Bearbeitung von Rodion Schtschedrin, einst für dessen Frau Maja Plisetskaja entstanden, und nur für Streicher und vier Schlagzeuger orchestriert; Franz Liszt, gerne für den Tanz genommen, ist mit seiner monumental halbstündigen h-moll-Klaviersonate in einem Satz vertreten; und Ravels Bolero gilt nicht nur eines der berühmtesten Musikstücke überhaupt, es wurde als Ballett konzipiert und ist seither auf der Bühne stets eine Apotheose des Tanzes – von Maurice Béjarts Version bis zu der von Sidi Larbi Cherkaoui, beide vom Pariser Opernballett getanzt, bzw. sogar in Auftrag gegeben.

Drei große Komponisten, drei berühmte Titel, wie geht der eigentlich eher zum Understatement neigende, skandinavisch demokratische Mats Ek damit um? Locker und entspannt. Die „Carmen“ als exotische Operette mit Augenzwinkern liefert dafür den rechten Auftakt. Auch wenn sie sich mit 50 Minuten Spielzeit ein wenig zieht, die parodistische Annäherung mit Glitzerfaltenröckchen und drei wandelnden Pappfächern als Bühnenbild funktioniert immer noch, um die Geschichte eine stolzen, unabhängigen Frau und eines Machomännchens mit einem Twist zu erzählen. Und wie immer bei Ek sind die Füße gern geflext, wird gekrümmt gesprungen, gehechtet und aus der Achse heraus gedreht, gerne auch im Plié zweite Position verharrt. Ein Sportball und phallische Zigarren dienen als ungewöhnliche Requisiten.

Getanzt wird so exquisit wie frech jugendlich unbekümmert und gespannt sportiv. Das steigert sich nicht wirklich zum großen Drama, die leidenschaftlichen Gefühle werden eher unterkühlt serviert. So funktioniert die eigentlich abgelutschte Geschichte aber noch ganz gut. Amandine Albisson ist eine burschikose Carmen, wenn auch viel jünger als einst die kerlige Ana Laguna, Eks Frau. Florian Magnenet gibt den Don José gleichzeitig verletzlich-verwirrt und forsch-präpotent, Ein Bild von Tanzmann. So wie auch der lässig posierende Escamillo Hugo Marchand, während die Michaela, hier nur M genannt, von Séverine Westermann für den ländlichen Weltschmerz und die Tragik zuständig ist.

Die eigentliche Kostbarkeit des Abends versteckt sich zu Beginn des zweiten Teils, das Duo „Another Place“. Das bezieht sich zunächst auf Mats Eks älteren Pas de Deux „Place“ für Laguna und Mikhail Baryshnikov indem es ebenfalls Tisch und Teppich zum Einsatz kommen lässt. Er ist aber, Aurélie Dupont, die gegenwärtige Pariser Diréctrice und eigentlich 2015 in Rente gegangene Étoile tanzt schließlich den weiblichen Part mit einer ganz feinen Aura, auch eine Verbeugung vor dem Gebäude und der Institution. Erst nämlich ist das eine Bergmansche Zustandsbeschreibung menschlicher Zweisamkeit: ein offenbar langjähriges Paar mag sich und auch nicht, ist leidenschaftlich einander zugewandt, gelangweilt, abgestoßen.

Zunächst steht Er, Stéphane Bullion, allein im Mittelpunkt. Mit wehender Strickjacke erobert er sich die Bühne, seine Brille, die er ab- und aufsetzt, spielt eine wichtige Rolle. Auf dem Tisch fegt er mit grandioser Geste über imaginäre Tasten, so wie es im leeren Graben souverän Staffan Scheja am Flügel tut. Dann kommt die Dupont dazu, auch in Strickjacke und weitem Kleid, Haarknoten, schön, aber ohne jeden Glamour. Man zieht einander Schuhe und Joppen aus, jagt sich, kost sich, ist sich einander gleichgültig. Das geht immer mit der Musik kongruent, die mal himmelhochjauzend, mal betrübt tönt. Szenen einen Ehe? Irgendwann haben beide erschöpft genug, der Steinway fährt hoch, sie setzen sich ins Dunkel, hören einfach nur zu, der Fokus verschiebt sich ganz auf die Musik.

Nach weiterem Gerangel lässt Er sich einfach in den Orchestergraben rollen (da stehen Fangmatten!), jumpt dann wieder auf die Szene. Sie schieben sich auf dem Tisch hin und her, er rollt sich in den Teppich, stellt sich auf, fängt sie darunter, bis sie den Läufer beide wie einen Königsmantel hinter sich her über die Bühne schleudern. Das alles ist so intensiv wie intim. Dann aber wird die Szene ganz leer und heller, das hintere Eisentor fährt hoch, dahinter leuchtet der Kronleuchter im berühmten Foyer de la Danse, verdoppelt sich mt der Stuckdecke im Spiegel. Beide verbeugen sich, er hebt sie empor, sie verschmelzen als Individuen mit der Historie des Palais Garnier, vor der sich auch Mats Ek verneigt.

Hier müsste jetzt Schluss sein. Ist es aber nicht es gibt eine offene Verwandlung, das Duo geht einfach ab, ein alter Mann in weißem Anzug und Hut (Mat Eks Bruder Niklas) schiebt eine silbrige Badewanne von der Seite herein, beginnt sie mit Wasser zu füllen, ganz langsam, das er per Eimer von der linken Bühnenseite holt. Tänzer in schwarzen Kurztrainingsanzügen mit Kapuze verteilen sich auf der Fläche, unten nimmt wieder das Orchester Platz, das gleich Jonathan Darlington durch einen schnell genommene Bolero führen wird.

Und wieder unterläuft Mats Ek alle hochgespannten Erwartungen. Die Musik wiegt sich endpunktgenau in ihren berühmten, crescendierenden Instrumentalvariationen des immer gleichen Themas, das zunächst die ganze Truppe vorführt, 21 meist sehr junge Tänzerinnen und Tänzer. Locker, nicht sehr akademisch, wie improvisiert. Dann aber ist immer nur einer, zwei, ein kleines Grüppchen, nur noch einmal das ganze Corps zu sehen. Der populären Partitur wird so durch animalisch anmutende Bewegung Widerstand geleistet, die Konvention wird nicht erfüllt.

Langsam senken sich insgesamt elf verbogene Strahlrohre nacheinander aus dem Schnürboden – die sich freilich als menschliche Profile erweisen. Marie-Louise Ekman und Peter Freiij haben sie geschaffen, die optisch für den ganzen Dreiteiler zuständig sind. Und wie als Kontrapunkt schleppt dazwischen der sichtlich alte Niklas Ek, seinen Zinkwassereimer über die Diagonale zum Bade. Am Ende wird er von den Tänzern auch weggeschubst- und getragen. Er kommt immer wieder. Bis er sich zum letzten Ton – natürlich –  genussvoll in die Wanne plumpsen lässt.

Die ist voll – und das Haus jubelt. Mats Ek is back. Er kann es immer noch. Wie schön ist das! Bitte, mehr.

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