Nein, es ist nicht so wie sonst. Denn die – nach einer tiefschürfend schwarzen Claus-Guth-Exegese für das Theater an der Wien – jüngste Auseinandersetzung mit Georg Friedrich Händels verrückt rasender opera seria „Orlando“ hat ein Choreograf zu verantworten, der im Musiktheater gleich sehr souverän debütiert: Jörg Weinöhl. Der 49-Jährige hat lange Blockflöte gespielt, bevor er spätberufen an der John-Cranko-Schule Ballett studierte, als Tänzer, Solist und Choreograf am Stuttgarter Ballett und dann prägend bei Martin Schläpfer in Bern, Mainz und Düsseldorf reüssierte. Weinöhl hörte, auch verletzungsbedingt, 2013 auf und war ab 2015 für drei Jahre Ballettchef in Graz. Dort hat er schon versucht, spartenübergreifend zu arbeiten, Texte und Biografien in seine Werke einfließen zu lassen. Eigentlich sollte jetzt, die Zwänge eines Dreispartenhauses mit Tanz als Appendix war ihm bald zu eng, ein Sabbatical zur Neuorientierung folgen. Doch wurde er kurzfristig vom Staatstheater Darmstadt angefragt, ob er den schon terminierten „Orlando“ übernehmen könne. Jörg Weinöhl wollte und konnte. Zudem brachte er als Opernnovize prominente und professionelle Mitstreiter mit: die Dramaturgin Yvonne Gebauer, die mit Guth, Christof Loy und Hans Neuenfels arbeitet, sowie den bildenden Künstler Philipp Fürhofer, der schon für Stefan Herheim, Kaspar Holten und Stefan Märki tätig war. Das Ergebnis ist so ungewöhnlich wie originell. Dieses Team begreift Barockoper nicht ein weiteres Mal weder als ironiegetränkte Satire noch als hyperrealistische Story mit Dacapo-Arien. Im dafür bestens geeigneten Kleinen Haus gibt es auch keine historisch informierte Rekonstruktionsannäherung und keine wirklich psychologische Deutung. Man hat sich die Freiheit genommen, erheblich zu kürzen und auch in die Werkgestalt einzugreifen. Dafür breitet sich über etwas mehr als zwei Spielstunden ein optisch attraktiver Bewusstseinsstrom aus, kaleidoskopisch gedreht und gebrochen, auf mehreren Bedeutungsebenen, attraktiv und abstrus, überraschend und eigenwillig. Höchstens kann man dem fragil revueartigen Bildtonbewegungsgebilde vorwerfen, dass es allzu sehr in seinen sich reihenden Einzelszenen verharrt und man zumindest die schematische Handlung gelesen haben sollte.
Doch so wie diese Opernform nie für eine plane, ungebrochen konzentrierte Begutachtung im abgedunkelten Zuschauerraum gedacht war, so nimmt sich die Regie die Freiheit, zu filtern, zu exzerpieren und zu betonen. Herausgekommen ist ein vielschichtiger Versuch über Orlando, den rasenden Roland, der gebrochen aus dem Krieg heimkehrt, immer noch in Angelica verliebt. Die aber hat sich längst Medoro geangelt. Dafür macht sich Dorinda Hoffnung auf Orlando. Und der Magier Zoroastro fummelt irgendwie dazwischen rum, mehr Unheil als Gutes tuend. Weinöhl zeigt dieses Beziehungsgeflecht fragmentarisch aufgebrochen und als subtile Collage, bisweilen fehlen den Arien sogar die da-capo-Teile.
Es beginnt schon mit mehreren Einstiegen, einer ist die Storyline von Frau H. ,die im echten Opernleben Elisabeth Hornung heißt und just in dieser letzten Vorstellung nach 30-jähriger Ensemblezugehörigkeit ihren Abschiedsabend als Kammersängerin feiert. Deshalb bekommt sie beim Endapplaus von ihren Kollegen einen Calla-Topf. Vorher aber saß sie als altmodische Omi mit Löckchenperücke im Schneiderkostüm vor einem Transistorradio und hörte „Orlando“. Dazu gab es Likörchen. Die Radioklänge gingen dann über in das Liveorchester (auf modernen Instrumenten plus Schlagwerk für die Geräusche und Tierstimmenimitationen) unter dem brav taktierenden, dann wieder beherzt zupackenden Michael Nündel.
Aber so wie immer mehr der zerrissene, traumatisierte, vermutlich bipolar zweigeteilte Roland (der intensive Countertenor Owen Willetts und der geschmeidige Tänzer João Pedro de Paula) sich in den Fokus schiebt, so taucht auch Frau H. ein ins gar nicht so ferne Singgeschehen. Bis sie am Ende des ersten Teils selbst eine Arie von Caldara singt – für die echte Elisabeth Hornung ein biographisch wichtiger Klangmosaikstein.
Orlando, von seinen zwei Ichs hin- und hergezogen, versucht sich Klarheit zu verschaffen und verstrickt sich nur weiter in das Gespinst seiner Wahnvorstellungen. Erst irrt er nur zwischen unterschiedlichen Stühlen herum, ge- und verfolgt von zwei aparten Ballettdämchen in wechselnder Couture, ironische Sidekicks und Albtraum-Gelichter. Dann lässt Philipp Fürhofer die Vorhänge von der Stange, wallende Courtinen, die luftige Räume schaffen, helle Stoffe mit nackt weiblichen Extremitäten beprintet, die Durchblicke eröffnen, verhüllen und in die man sich wie ein einen Kokon wickeln kann. Fluide Fluchten, ähnlich der versatilen, stetig neue Perspektiven andeutenden, anbietenden Erzählweise, die die künstliche Barockopernstilistik neu aufbereitet.
Das ist so schön wie intelligent gemacht. Angelica (mit Allüre: Julia Giebel) und Medoro (Stephan Krautwald spielt, Judith Gautier singt von der Seite) haben sich in ihrem blauen Business Outfit schon optisch angenähert. Zorastro (Johannes Seokhoon Moon) ist ein verpeilter Star-Wars-Fan, der Himmelskarten studiert. Er verwirrt höchstens die schüchterne Dorinda (jungmädchenfiepend: Jula Grutzka), eine Brillenschlange im fiesen Strickpullikleid, die er mit seinen Zaubertricks umgarnt, schließlich in eine glitzrige Märchen-Cinderella verwandelt. Aber nur für kurze Zeit: bald ist sie wieder graue Maus.
Irgendwie kämpft hier jeder mit seiner Identität, inklusive der fiktiven Zuhörerin am Radio. Am Ende, der Wahnsinn ist gebannt, ein wenig Bach wurde zudem vertanzt, die Bühnenwelt ist aber immer noch nicht schöner, wird ein fröhliches Finale zumindest behauptet: mit festlichen Gardinen wie im Barocktheater und „Reise nach Jerusalem“-Stühlerücken. Doch Orlando ist sich nicht wirklich bei sich angekommen. Aber die offene, durchaus moderne Struktur dieser Barockoper beim Zuschauer.
Der Beitrag „Orlando“ als fragmentisiertes Arien-Kaleidoskop: Der Choreograf Jörn Weinöhl debütiert in Darmstadt mit einem ungewöhnlichen Händel als Opernregisseur erschien zuerst auf Brugs Klassiker.