Wie aktuell ist Richard Strauss noch? Fragen, die sich stellen, während ich durch das blaue, in der Sonne glänzende Werdenfelser Land gen Garmisch-Partenkirchen fahre, noch die rauschhaften Klänge, aber auch die verstörende Ikonographie der Münchner „Salome“ im Ohr. Oberbayern, irgendwie ist das ja Richard-Strauss-Kernland, zwischen dem Nationaltheater seiner Geburtsstadt, wo ja immerhin noch zwei später Opern („Friedenstag“, „Capriccio“) uraufgeführt wurden, und der Marktgemeinde, wo er eben von diesen „Salome“-Einnahmen 2008 ein schönes Landhaus zum Komponieren und inspiriert Werden bezog; repräsentiert hat er dann später in seinem feudalen Wiener Schlössl am Belvedere, heute Residenz des niederländischen Botschafters. Hier gehen dieses Wochenende das im letzten Sommer von dem einfallsvollen Alexander Liebreich neu aufgesetzte Richard-Strauss-Festival zu Ende, irgendwie ein lokales Festspielschmerzenskind, seit 30 Jahren schon. Und dort soll, ich höre immer noch Marlis Petersens so klarglühendes Münchner Salome-Debüt, erstmals Asmik Grigorian, die Salome-Sensation vom letzten Salzburg-Sommer, sich an Strauss-Orchesterliedern ausprobieren, diesen späten Sopranklangkulinarika des frühen 20. Jahrhunderts. Und das vor der – danke, Hoch Ulla! – in abklingender Saharahitze glühenden Fassade von Kloster Ettal. Endlich mal ein deutsches Open Air Konzert wie gemalt und wie in Italien.
Denn Regisseuren, Krszysztof Warlikowski insbesondere, langt also „Salome“ nicht mehr als Fin-de-Siecle-Girlie, das sich mit einem morbiden Todeskusswunsch gegen seine dem Untergang verschriebene Familie und Gesellschaft stellt. Da muss mindestens, als ganz großes Trauma und Tabu, noch die Shoah mit dazu; so wie übrigens auch schon im von der Strauss-Familie verbotenen Ken-Russell-BBC-Film „Dance of the seven vails“, auf den sich Krzysztof Warlikowski in seinen Programmheftausführungen seltsamerweise gar nicht bezieht. Und Alexander Liebreich eckt an, weil der versatile, weltoffenen Dirigent aus Regensburg das Strauss-Festival auch für andere Komponisten öffnet. Für Mozart, Bach, Beethoven oder Dvorak, Mendelssohn und Szymanowsky alles Meister, denen sich Strauss eng verbunden fühlte, die er als bedeutender, weltreisender Dirigent oft genug aufführte.
Warum nicht? Die alternde Strauss-Gemeinde, mit ihrem inoffiziellen Mittelpunkt, dem inzwischen 86-jährigen Enkel Christian, der in der Reihe Sieben im stimmungsvoll in letzten Sonnenstrahlen badenden Ettaler Klosterhof, ein wenig Hof hält, kann für Strauss-Orchesterkonzerte an besser Orte fahren. Mit München kann man sowieso nicht konkurrieren. Aber nach dem Abgang von Brigitte Fassbaender, die über acht Leitungsjahre den Schwerpunkt in Richtung Gesang, Nachwuchs und Pädagogik verschoben und damit bereits ein paar Weichen weg von der her so schmerzlich vermissten, aber kaum durchführbaren Oper gestellt hatte, gab es zwei Möglichkeiten: aufhören oder ändern.
Die Gemeinde, aber auch der Freistaat, haben es dann doch noch einmal wissen wollen, der bestens vernetzte Alexander Liebreich, der beim Münchner Kammerorchester wie in Kattowitz einen sehr guten Chefjob gemacht hat, bekam mehr Geld, von Stadt und Land, eine Million als Ziel ist noch nicht erreicht, und einen festen Posten im Staatshauhalt hätte man halt gern. Dabei hat sich das bisweilen langweilige, austauschbare, nur nach Stars schielende Festival schon in diesen zwei Liebreich-Sommern zum Positiven verändert.
„Ich wollte Partizipation, den Gang in die Natur und die Öffnung nach Europa,“ sagt der Chef, noch verschwitzt vom Dirigat, im barocken Dresden-Zimmer des Klosters, wo auf etwas primitiv gepinselten Stadtansichten nicht nur die katholische Hofkirche, sondern in der linken Ecke auch die evangelische Frauenkirchen zu sehen sind. „Das habe ich jetzt schon erreicht, nun geht es auch noch darum, Richard Strauss in all seinen Facetten vorzuführen, nicht nur den positiven“, funkelt er erschöpft, aber auch kampfeslustig.
Das Strauss-Festival hat sich endlich, auch wenn das vor Ort noch nicht so wahrgenommen wird, viel stärker mit Garmisch-Partenkirchen, mit seinem Tal, den Bergen, der Region verknüpft, wird dadurch endlich unverwechselbar. Was eigentlich ziemlich einfach ist, Liebreichs Rezepte sind nicht so neu, anderswo schon erprobt, für hier jedoch noch eine kleine Revolte. Die Künstler aber, die er einlud, die sagten gleich zu, und kamen gerne.
Mit Orchestermusik wird jetzt hausiert, die beiden Wochenenden der zehn Festspieltage haben zum Auftakt die Camerata Salzburg unter dem auch oboespielenden François Leleux mit dem Pianisten Saleem Ashkar im Werdenfels Gymnasium bestückt, die letztes Jahr erfolgreich gestarteten Freiluftkonzerte im traumschönen, gastfreundlichen Kloster Ettal (nur die Kirche müsste noch offen sein für die Konzertgäste!) teilte sich Liebreich mit Cornelius Meister (samt Jean-Guihen Queyras als Cello-Quichote wie -Pansa) am Pult des Radio Sinfonieorchester Prag. Ulrich Matthes und Christian Brückner lasen, Michael Wollny spielte Jazz – alle zum Festivalthema „Poesie“. Die Nachwuchsreihe Rising Stars sowie Kammerkonzerte mit Golda Schultz und Arabella Steinbacher waren im neuhinzugekommen Partner Schloss Elmau loziert; unter dem Motto „Sommernachtstraum“ tanzte die Jugend (Liebreich ist mit einer Ex-Tänzerin verheiratet); Dame Felicity Lott gab eine Vokalmeisterklasse; man lud zum Kamingespräch mit Helmut Lachenmann und zu Musikwanderungen u.a. durch die Partnachklamm mit Bergführer Alois und Klangüberraschungen.
Und zweimal ist man auch Garmisch aufs Dach gestiegen: Der 2962. Zugspitz-Höhenmeter war Schauplatz einer Gipfelklaviermusikstunde samt Adlerflugvorführung und nachfolgendem Dinner mit Piotr Anderszewski als „Top of Germany“ – während auf den Hausbergen weiter unten die Johannifeuer brannten. Sehr stimmungsvoll und bewegend, fanden alle, die dabei gewesen sind. Und auf dem Wank haben das Perkussionist/Bratschistin-Pärchen Alexei Gerassimez und Hiyoli Togawa ordentlich eingeheizt. „Top music at top locations“, auch für diesen Werbespruch ist sich Alexander Liebreich nicht zu schade. Und er stimmt sogar.
Er selbst, der einen locker gehändelte Drei-Jahres-Absichtserklärung als Festivalleiter abgeschlossen hat, sprüht vor Ideen und möglichen Verbindungen, hält sich aber in seinem Auftritten zurück. Das Thema Strauss ist für ihn noch lange nicht ausgegessen. Ende des Jahres laufen die Werkrechte aus, dann kann ihm sowieso niemand mehr reinreden, die Familie, im Ort nicht nur freundlich beäugt, hat es übrigens nie getan. Nächstes Jahr soll „humanitas“ das Thema sein. Wieder doppeldeutig, eben auch politisch zu verstehen, so wie „poesie“ die Lyrik der Strauss-Lieder ebenso wie die Aura der Natur meinte. Dann sind die Bamberger Sinfoniker unter ihrem tollen Chef Jakub Hrusa zu Gast, auch eine Institution des Bayerischen Staates, passt also. Dazu kommt, wie schon 2018, die Berliner Akademie für Alte Musik, diesmal mit einem historisch informierten, halbszenischen „Fidelio“. Und Marlis Petersen wird singen!
Vorher, im Klosterhof aber ging es schon einigermaßen weltläufig zu. Die Benediktiner haben Lillet Wild Berry, marinierte Spargelspitzen und Glasnudelsalat im Imbissangebot. Und das auftaktende „Till Eulenspiegel“ wird von einer tschechischen Hornistin geblasen, aufmüpfig grell (obwohl die Verstärkung der auch für das Münchner Odeonsplatz-Open-Air zuständigen Crew selbst weit vorn ziemlich natürlich klingt), aufregend mutig und immer am Rand des Kippelns wie Kieksens. Dann kommt die Litauerin Asmik Grigorian, zurückhaltend lächelnd, bescheiden, im schmucklos Schwarz. Sie singt, umspielt von einem tschilpenden Schwalben-Schwarm, der im Hof seine Kapriolen schlägt, fünf der bekannteste Strauss-Lieder, dunkel glühend, ruhig, ohne große Allüre, in etwas schwergängigem Deutsch. Um sich dann jubelnd frei zu entfalten in Dvořáks Lied an den Mond, das diese Rusalka sogar an den echten Himmelstrabanten richten kann.
Nach der Pause, es ist fast dunkel, die Stechmücken haben ein Fest, Antonín Dvořáks 8. Sinfonie: für das klangpralle Rundfunk Sinfonieorchester Prag, dem Liebreich seit dieser Saison vorsteht und mit dem er erst fünf Abbokonzerte absolviert hat, ein böhmisches Heimspiel in Bayern. Für den neuen Chef aber der erste gemeinsame Dvořák. Denn man nicht groß proben wollte, auf dessen Impulse man aber jetzt durchaus eingeht. Und wieder erweist sich das Stück als ideales Werk, um ein Orchester griffig in Szene setzen zu können – durchaus plakativ, unmittelbar, rhapsodisch mit den Formmodellen spielend, die Farbpalette einfallsreich auskostend. Trotz des markant elegischen g-moll-Themas explodiert lebens- und farbenfrohe Musik. Das zieht sich durch das heiter melancholiegetränkte Adagio, den sanft beschwingten, ruckelnden Walzer des Allegretto grazioso Scherzos. Rasant mündet das in die Fanfaren der Finale-Variationen.
Europäisch kunterbunt. Schön, Richard Strauss so eingemeindet zu hören – und wohlmöglich auch neu entdecken zu lernen, jenseits der abgetretenen, dafür bisweilen auch echten Waldboden-Pfade. Garmisch macht es möglich! Und sollte diesen sinnträchtigen Weg weitergehen.
Der Beitrag Der Richard-Strauss-Gipfel: Schon im zweiten Jahr unter Alexander Liebreich hat sich das Garmischer Festival gewandelt – bis zur Zugspitze hinauf erschien zuerst auf Brugs Klassiker.