Wenn man Romeo Castellucci für eine Musiktheaterprojekt engagiert, dann sollte man zwei Dinge beachten: das Werk sollte nicht viel länger als 90 Minuten dauern und es sollte möglichst abstrakter Natur sein. Der Rest fügt sich sowieso meist erst zwischen Hauptprobe und Premiere. Pierre Audi hat das für seine erste Saison beim Festival d’Aix-en-Provence vorbildlich beachtet und Castelluccci wie den längst vielgefragten Raphaël Pichon samt seinem Pygmalion Chor und Ensemble auf Mozarts Requiem-Spur gesetzt. Zu den knapp 70 Minuten unvollendet ergänzter Totenmesse kommen im Théâtre de l’Archevêché noch ein paar weitere, meist unbekannte Kompositionen wie die die mit verminderten Akkorden aufwartende Meistermusik oder ein frühes Miserere, das ebenfalls in d-moll fast den gleichen Anfang aufweist wie Mozarts letztes Opus. Zudem wird das Requiem eingerahmt von zwei gregorianischen Hymnen, die die Zeit und die Ewigkeit symbolisieren, den Kreislauf des Seins.
Denn zu sehen ist auf der erst schwarzen, dann weißen, schließlich mit Farben und Erde verschmutzten Bühne eher ein Fest des Lebens, auch wenn es dauernd um Verlust geht. So wird die wohlbekannte, schnell klischeesatte Ikonographie um Tote, Begräbnis und Trauer vermieden. Hier wird freilich auch, im wahrsten Wortsinn ein existenzieller Zyklus durchschritten und durchtanzt, eine Feier des Heute. Eine alte Frau schaltet den Fernseher aus, raucht eine finale Zigarette, isst eine letzte Orange, legt sich darnieder, versinkt und vergeht im Bett. Aber sie ersteht als jüngere wieder, wandelt sich rückwärts zum Mädchen, bleibt schließlich als Baby allein krabbelnd auf der leeren, stillen Szene zurück.
Castellucci gelingen anrührende, einfach, assoziative Bilder, denen man sich einfach hingeben kann, die nicht zu tiefe Bedeutung haben. Und Pichon samt Musikern löst das – vor allem dank dem subtilen, superben Chor, der singt, spielt, tanzt – in eine fluide, transzentente und doch körperhafte musikalische Ebene auf; die nie Untermalung ist, sondern zentraler Bestandteil. Und über allem scheinen die Sterne, weht der Mistral, ist der Kosmos, zumindest der provenzalische, ganz dicht um uns. Einfach. Magisch.
Natürlich wäre Castellucci nicht er selbst, wenn da nicht eine tiefere Botschaft lauern würde, sich ein wenig der Zeigefinger reckte. Sein „Requiem“ das ist auch eine (unvollständige) Enzyklopädie des Verlorenen, der Dinosaurier, ausgestorbenen Tierrassen, Pflanzen, Völker, zerstörter Städte, Architekturen, Kunstwerke bis hin zu den Twin Towers, Palmyra und dem Dach von Notre Dame. So scheinen deren Namen in ruhiger Folge auf der Rückwand auf.
Sie werden umspielt und gekontert von den Choristen, Solisten, Tänzern sowie den diversen Frauengestalten. Es gibt – außer einem Märtyrer-Palmwedel und einem als Fußball benutzten Vanitas-Totenschädel – keine religiösen Symbole, aber Rituale, auch mal schamanische mit Farbpulver, Fellen und Hörnern. Nichts ist eindeutig erkennbar. Der Chor, erst in graubrauner Alterskleidung, wechselt in diffus osteuropäische Folklorekostüme, zunächst weiß, dann immer mehr errötend samt putziger Kopfbedeckungen.
Man tanzt, im Kreis als Reigen, um einen sich verschlingenden Bänderbaum. Ein Autowrack wird hereingezogen, ein Strahlenkranz schwebt herab. Locker dazwischen positioniert sind die trotzdem ihre Profil bewahrenden, fein balancierten Gesangsolisten Siobhan Stagg, Sara Mingardo, Martin Mitterutzner und Luca Tittoto. Hinreißend singt der mutige marokkanische Knabe Chadi Lazreq sein Solfeggio-Solo und das Finale. Bäume werden aufgestellt, Blumenkränzen und Grünzeugbögen verwendet. So deklamiert und feiert man gegen die Posaunen des jüngsten Tages an. Schließlich legt man sich zum Sterben nieder. Während am Ende nicht mehr getragene Kleider samt der Ackerkrume auf dem sich aufstellenden Bühnenboden daniedersausen und die fast nackte Menschheit dem letzten Gericht entgegenschreitet.
In einem solchen Kontext, und es ist ja nicht das erste Mal, dass das Requiem visualisiert wurde, hörte man diese Musik trotzdem wie neu. Sie bekommt eine andere Bedeutungsebene, ohne das die konkrete von Text und Klang verschwinden würde, sie teilt sich, auch durch die klug arrangierten Einschübe, mit anderer, frischer Kraft mit. Sie berührt – auch durch die Lauterkeit und Intensität ihrer Ausführung. Pichon setzt dramatische Akzente, aber alles bleibt in einem ruhigen Fluss des Ephemeren. Da ist nichts zerrissen und gezackt. Diese Deutungsweise beruhigt und lässt gleichzeitig aufmerken und gespannt zuhören. Und sie hebt das Requiem auf eine neue, so nicht gekannte Ebene.
Man meint, einer ewig alten, archaisch anmutenden Beschwörung zuzusehen. Diese aber ist sanftmütig, einladend, nicht einlullend. Immer neue, überraschende, manchmal bekannt dünkende Bilder tun sich auf, weiten sich zum Tableau, werden abgelöst und verschwinden wieder. Am Ende steht der konkrete Tag der Aufführung. Auch er ist – fast – schon verschwunden. Kurz vor der provenzalischen Mitternacht ist es zu Ende, kommen wir wieder zu uns. Verzaubert.
Auf Arte/concert abrufbar
Der Beitrag Sterben, um zu leben: Romeo Castellucci und Raphaël Pichon feiern in Aix das Mozart-Requiem als ein berührendes Fest des Vergänglichen erschien zuerst auf Brugs Klassiker.