In Salzburg hat die Anna N. einen Auftritt abgesagt, weil sie erkältet war, und das hat gleich einen kleinen Skandal gegeben. Oper halt. Aber selbst im beschaulichen Martina Franca, wo das raritätensüchtige Festival della Valle d’Itria in die 45. Runde geht, gibt es Theater außerhalb der Oper. Der 35-jährige Dirigent Sesto Quatrini, der für den erkrankten Musikchef Fabio Luisi eingesprungen ist, leidet schon länger darunter, das Opfer einer japanischen Stalkerin zu sein. Die Sopranistin studiert am Mailänder Konservatorium und war letztes Jahr bei der dem Festival angeschlossenen Nachwuchsakademie „Rodolfo Celletti“ dabei. Deshalb war sie auch eine Zweitbesetzung in „Giulietta e Romeo“ von Nicola Vaccaj, die Quatrini dirigierte. Seither verfolgt sie ihn. Er hat einen Polizeibeschluss erwirkt, dass sie nicht mehr als 500 Meter an ihn heran darf, sie hat auch bereits zwei Polizisten mit einer Schere bedroht. Jetzt aber ist sie selbst in Apulien hinter ihm her. Auf den sozialen Medien beschimpft sie den Festivalchef Alberto Triola, zeigt Tote und Verstümmelte. In Martina Franca bewegen sich die Verantwortlichen nur noch mit Leibwächtern, weil die Polizei die wirre Dame nur kurzzeitig festsetzt, wenn sie wieder öffentlich ausfällig wird, sie aber nicht des Landes verweist.
Dabei ist hier doch inzwischen Harmonie pur. Das Festival, das sich zwar selten Gespieltem widmet, aber immer wieder seine Ausrichtung änderte und auch finanziell schlingerte, scheint augenblicklich in ruhigem Fahrwasser. 2010 übernahm Alberto Triola die künstlerische Leitung und legte den Schwerpunkt auf Barockoper und Belcanto, vorzugsweise der neapolitanischen Schule. Zum 41. Festival kam Fabiol Luisi hinzu, inzwischen ist mit dem Orchester des Teatro Petruzzelli in Bari sowie mit dem Opernchor aus Piacenza ein gleichbleibendes musikalisches Niveau gewährleistet. Im dritten Jahr sorgt hier zudem Regiealtmeister Pier Luigi Pizzi für zumindest geschmackvolle Professionalität. Meist gibt es drei Opern, dazu nette musikalische Kleinigkeiten und Konzerte, verteilt auf die diversen Kirchen und Klöster der in der heißen Sonne weiß und honigfarben strahlenden Barockstadt.
Eine Spezialität von Martina Franca sind zudem die kleinen Opern in diversen Masserie, den apulischen Bauernhäusern (meist zu Hotels oder B & Bs ausgebaut und veredelt) im Unesco-Welterbe des Itria-Tals der Trulli. Die 45. Festival-Ausgabe ist diesmal ganz der neapolitanischen Oper in ihren diversen Genre-Ausformungen vorbehalten. Dazu gehören auch die Intermezzi, die komischen Pauseneinlagen in ernsten Opern teilweise derselben Komponisten. Schließlich war Oper im 17. und 18. Jahrhundert ein stundenlang abend- und nachtfüllendes Vergnügen, bei dem es laut und hell zuging, bei dem man während der kurzen Karnevalsaison jeden Abend kam, sich mit den Mitwirkenden auf die eine oder andere Weise vergnügte, Bekannte traf und der Impresario meist noch einen Ridotto, einen Spielsalon, führte, um nicht nur Ausgaben, sondern auch Einnahmen zu haben. Ein soziales Ereignis eben.
Ein soziales Ereignis, mit viel Volk, ist ebenfalls zur Festivalabendeinstimmung das kostenlose „Concerto per il Spririto“, bei dem sich der Chor aus Piacenza ein weiteres Mal präsentiert – mit Brahms’ Deutschem Requiem in der Fassung für zwei Klaviere. Während draußen der abendliche Giro durch die Hauptstraße flaniert, ist die Basilica di San Martino mit dem mächtigen Relief des Heiligen über den Eingang auch schon früh übervoll. Alte Damen unterhalten sich noch ungeniert weiter wenn schon längst das „Selig sind, die da Leid tragen“ begonnen hat. Staccatospitz klingen die Klaviere, amorph bleibt die Stimmenmasse in dem halligen Barockschiff. Nach jedem Satz wird geklatscht, viel Andacht, gar „spirito“ ist nicht, man spielt weiter auf den Handy, von der entzückenden Schäfermadonna her zuckt das Blitzlicht. „Silenzio“, das ist in einem Italien, wo fast überall der Fernseher in Dauerschleife läuft, kaum mehr möglich.
Auch nicht weiter taldraußen, in der schicken Masseria San Michele. Neben der Kapelle geht es erstmal als Opern-Aperitif zur Primitivo-Verkostung unter Sternen, mit Öl, Brot, Käse und Tomaten in den Garten, wo das Techno-Bum-Bum aus der Nähe, bellende Hunde, röhrende Motorräder noch nicht stören.
In umschlossenen Hof, vor der Hausfassade, die mit einem roten Kreuz und vielen Lichtgirlanden ausstaffiert ist, gibt es dann pausenlos gleich zwei Intermezzi, die eigentlich für fünf Zwischenakte von zwei Tragödien geplant waren. „L’ammalato imaginario“ von Leonardo Vinci, 1726 während dessen L’Ernelinda“ uraufgeführt, variiert Molières „Eingebildeten Kranken“, wenn hier eine junge Witwe sich einen Hypochonder anlacht, um versorgt zu sein. Dafür verkleidet sie sich als Arzt und überzeugt den Alten, dass gerade ihre Person das beste Heilmittel für ihn wäre. Natürlich ist er schnell desillusioniert, man bleibt aber trotzdem zusammen.
Auch „La vedova ingeniosa“ von Giuseppe Sellitti, als eines der letzten Intermezzi 1735 erstmals gegeben, variiert mit den obligaten zwei komischen Personen eine medizinische Geschichte. Diesmal stellt sich eine ebenfalls junge Witwe krank, um sich so an einen reichen Arzt heranzumachen. Zudem ringt sie ihm, verkleidet als ihr duellfreudiger Bruder, gleich das Heiratsversprechen ab. Das Genre kannte nicht sonderlich viel Abwechslung, höchstens dass mal noch eine gewitzte Magd (Pergolesis „La serva padrona“ ist ja als einziges Beispiel dieser Gattung noch wirklich bekannt) den üblichen Alten bezirzt.
Links im Bauernhof de luxe spielt das Orchesterchen Capella Musicale Santa Teresa die Marchi einen etwas dünnen Streichersound; dazu gibt es eine Theorbe und den ordentlich taktierenden Maestro Sabino Manzo am Cembalo. Sehr abwechslungsreich tönt das nicht. Zwar wurde hier dem einfachen Volk aufs Maul geschaut, das unverfroren seine Lüste und Schrullen lebt, vieles wird aber auch im Secco-Rezitativ abgehandelt, die uniform gestrickten Musiknummern sind selten, kommen, naturgemäß über Arien und Duette nicht hinaus; ebenfalls hinterlassen die Ouvertüren wenig Eindruck. Es war halt Pausenüberbrückung zwischen Sorbetti und Herzhafterem.
Doch das wird wettgemacht durch die beschwingt einfallsreiche Inszenierung von Davide Gasparro, der sich Maria Paola di Francesco ein rechts platziertes, raffiniertes Bühnenbildobjekt hat bauen lassen. Das ist erst Rikscha und Thespiskarren in einem, rote Draperien und weiße Volants verweisen wieder auf den durch Lachen heilenden Hintergrund. Das Ding mutiert zum Himmelbett und zum Krankenlager, schließlich wird es zum Boxring der Duellanten mit Handschuh und Holzschwert.
Da wuseln also zudem zwei stumm pantomimische Diener mit Luftballons. Die perückenrotgelockte Lavinia Bini und der auch durch einen falschen Schnurbart nicht verunzierte Bruno Taddio spielen fesch und singen ansprechend – zumindest der Bariton. Die Sopranistin hat sich im Masserie-Freiluftdienst verkühlt und macht nur das Mündchen auf; hinten tönt nett Maria Silecchio. Was dem ganzen Ärzte- Durcheinander, bei dem auch noch der Mann unfreiwillig die Treppe runterfällt, eine gewisse surreale Note gibt. Die in dem gemütlichen Ambiente gern genossen wird. Auch weil das Festival von Martina Franca damit gegenüber der sommerlichen Festspielkonkurrenz, den Mainstream und Rossini beackernden Festivals in Macerata und Pesaro ein sympathisches Alleinstellungsmerkmal hat.
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