Das dickleibige Programmbuch ist in eine Art rustikale Picknickdecke eingeschlagen, das passt gut zum Außenprogramm in apulischen Bauernhöfen. Aber auch das Plakat für das 45. Festival della Valle d’Itria ist gelungen. Heißt doch dessen Moto „Neapel und Europa. Das goldene Zeitalter“. Aus einem einigermaßen goldenen (eigentlich kalkstein- und marmorweißen Palazzo Ducale, der mit seinem eher schmucklosen Innenhof als von nichts ablenkender Hauptspielort dient, und der wie ein Reisekoffer seinen Deckel geöffnet hat, flattern die Theaterzettel mit den diesjährigen Werken heraus: Neben den beiden Intermezzi von Vinci und Sellitti, die das niedrige Genre der neapolitanischen Oper manifestieren, geht es auch in der chronologischen Folge des Festspiel-Finales wie auf einem Zeitstrom zu. Auf diese beiden Werke von 1726 und 1735, beide in Neapel uraufgeführt, folgt eine in London erstmals gegebene Opera Seria des Neapolitaners Nicola Porpora, dessen Todestag sich letztes Jahr zum 250. Mal gejährt hat. Und weiter geht es mit dem Hauptwerk eines der berühmtesten Neapolitaner, Domenico Cimarosa, auch wenn dessen „Il matrimonio segreto“ 1792 in Wien das Licht der Opernwelt erblickte. Als Finale folgt schließlich der Übergang zum Klassizismus, die 1812 in Neapel herausgekommene „Ecuba“ des 21-jährigen Nicola Antonio Manfroce. Der starb freilich ein Jahr später, wir wissen nicht, ob er dem gleichzeitig seine Opernkarriere startenden und bald auch Neapel erobernden Gioachino Rossini hätte gefährlich werden können. Und außerdem war im Rahmen des Festivals auch noch einmal, als Hommage an dessen 200. Geburtstag, Jacques Offenbachs zweiaktige Opéra-comique „Coscoletto“ zu erleben, die einzige, die in einem längst schon zur Nudelkoch-Karikatur herabgesunkenem Neapel spielt – schließlich war die Opernhauptstadt des 19. Jahrhunderts ganz eindeutig Paris.
Das alles hätte sicher auch Paolo Grassi gefeiert, der, sein Vater stammte aus Martina Franca, das Festival 1975 mitbegründet hat. Hier waren bisher weit über 100 Opern zu hören, und 100 Jahre wäre der ehemalige Journalist, Gründer des Mailänder Piccolo Teatro mit Giorgio Strehler, Scala-Intendant mit Claudio Abbado und RAI-Präsident, diesen Sommer geworden. Grund, ihn auch im eigenen Centro Paolo Grassi wie im Palazzo Ducale mit Ausstellungen, Buchveröffentlichungen und diversen Aufführungen und Veranstaltungen zu ehren.
Ein wenig mehr zum Porpora-„Orfeo“. Der ist eigentlich nur zu Teilen von ihm, ein typisches Pasticcio aus Originalarien und älteren Nummern von Hasse, Vinci, Francesco Araja, Franco Maria Veracini und Geminiano Giacomelli, die Porpora zusammengestellt, überarbeitet und mit Rezitativen versehen hat. So wurde mit einem koloraturgespickten Vehikel für die beiden Kastratensuperstars Farninelli und Senesino sowie die Primadonna Francesca Cuzzoni der ewige Londoner Opernkrieg mit Händel weiterangestachelt. Aus heutiger Sicht und nach dem Hören der von dem Musikwissenschaftler Giovanni Andrea Sechi neu editieren Partitur ist schnell klar, warum ein Gluck 30 Jahre später ausgerechnet mit einem „Orfeo“ die dringend nötige Opernreform miteinläutete.
Beim Stillstand beinah jeglicher Handlung ist der effektvolle Porpora-Arienmix nicht mehr als ein selbstzweckhaftes Konzert im Kostüm, aber damit passt es natürlich wunderfein in einen Raritätenkontext wie im dieses Jahr sehr sinnig komponierten Martina-Franca-Programm. Zumal es sogar ein wenig szenisch aufgehübscht wurde. Dieser „Orfeo“ ist erst beim Ende von Akt Zwei angekommen, wenn inhaltlich der halb so lange Gluck mit dem Begräbnis der Euridice ansetzt. Bei Porpora und seinem Librettisten Paolo Antonio Rolli geht es erstmal in die Unterwelt zu Pluto und seiner renitenten Proserpina, die teilzeitig auf die Erde zurückwill, und die schließlich den Herr des Hades dazu überredet, des Sängers tote Braut wieder zurückkehren zu lassen. Die giftige Schlange hat ihr nämlich König Aristeus an den weißen Hals gehetzt, der die Dame auch liebt, obwohl er sich eigentlich schon der boiotischen Prinzessin Autonoe versprochen hat. Eifersüchtelei, Neid und Missgunst auch hier, freilich beendet durch den göttlichen Gesang des Orpheus, der Pluto milde stimmt und ein glückliches Ende ermöglicht. Denn sogar das zerstrittene Paar findet sich.
Inszeniert besser arrangiert, kostümiert und beleuchtet hat das mit hübsch anzusehender Gestik Massimo Gasparon, Lebensgefährte und Langzeitassistent der mit 89 Jahren zwar restgrauhaarigen, aber keineswegs ruhigen Regieeminenz im Valle d’Itria, Pier Luigi Pizzi. Der hat vermutlich sogar die Brokatvorhänge und Seidendecken aus seinem venezianischen Palazzo gestiftet. Gasparon hat zudem das diesjährige Einheitsbühnenbild im Palazzo Ducale-Hof, drei weiße Kuben, schwarz verhängt und mit im Abendwind wehenden Vorhängen zum Katafalk umgewidmet.
Dazu sind zunächst das Götterpaar in lila Faltenwurf und goldenen Pappschnörkeln auf den überbordenden Roben, mit Helmbusch und Kürass auf den Stufen drapiert – ganz wie dem Kostümmusterbuch der Barockoper entsprungen. Der versatile Bass Davide Giangrigorio (der vor allem in seiner zweiten Arie an Statur gewinnt) und die pastose Giuseppina Bridelli singen sie beide mit Gusto.
Dann erscheinen voll Grandezza und Reifrockschwung die beiden Damen, deren launische Liebe hier verhandelt wird, und die zunächst gar nicht wissen, an wenn sie sich amourös eigentlich anheften wollen: Anna Maria Sara, etwas flach in der Tiefe, ist die blonde Euridice in Kobaltblaugolden. Burgunderrot glänzt und vokalfunkelt mit dunkler Perücke der lyrische Mezzo von Federica Carnevale als Autonoe.
Schließlich erscheinen noch zwei Herren der Schöpfung, beides Countertenöre als gar nicht schlechter Kastratenersatz. Der junge Südamerikaner Rodrigo Sosa dal Pozzo schummelt ein wenig in den Koloraturen, legt aber einen flamoyant royalroten Aristeus auf die Bretter. Und als Orfeo im Musikerrock, grün und ziegelfarben, kann der in der Höhe kurze Raffaele Pe sein weiche, langatmige Legatotechnik ausspielen. Ein fast schon sentimentalisch eingefärbte Künstlernatur, die, eine goldene Leier schlagend, aber auch vokal zubeißen kann.
Vier schwarzgewandete Statisten mit weißen Masken vollführen die Umbauten und sehen manierlich aus, ebenso das als Chor ausreichende, als dekorativer Rahmen fungierende Vokalquartett in Weiß und Orange. So schlägt die kurzweilige, bisweilen auslandend prunkvolle Musik allerschönst die Zeit tot. Ihre Dramatik verdankt sie freilich weitgehend dem beherzten, souverän gliedernden Zugriff des barocken Dirigier-Krösus George Petrou. Mit seinem klangvoll aufrauschenden Armonia Atenea-Ensemble, hier erstmals und vermutlich nicht letztmals zu Gast, liefert er genau den instrumentalen Mehrwert, den ein solcher Catwalk der Arien braucht, um ihm wenigsten ein bisschen theatralischen Sinn zu verleihen. Was vollauf gelungen ist. Und auch die herrlichen Stöffchen haben ihre Schuldigkeit getan.
Schade nur, dass man vergessen hat, die bereitstehenden RAI-Mikrofone aufzubauen. So sieht sich wegen süditalienischen Schlendrians die Nachwelt leider um einen Mitschnitt als Tondokument gebracht. Aber immerhin, nach dem Festival ist vor dem Festival, hat die künstlerische Leitung aus Alberto Triola und Fabio Luisi bereits das Programm für 2020 bekannt gegeben: Man spielt von Ermanno Wolf-Ferrari „Gli amanti sposi“, Saverio Mercadantes „La rappresaglia“ und zum Beethoven-Jahr dessen „Fidelio“-Vorbild, die „Leonora“ von Ferdinando Paër. Klingt interessant, und das Programm bleibt sich linientreu.
Der Beitrag Festival Martina Franca II: Für Porporas koloratursatten „Orfeo“ musste der Palazzo Pizzi Vorhänge lassen erschien zuerst auf Brugs Klassiker.